Die Distanzierung vom schlechten Gewissen
Kapitel 2.10.2. des Buches Zivilisation als Fortsetzung der Evolution. Die Entwicklung der Erdbevölkerung zum System Menschheit. ISBN 978-3-00-024701-9
Über die Bedeutung der Tötungshemmung bzw. der Überwindung der Tötungshemmung oder der Vermeidung des Brudermordes für den Prozess der Zivilisation habe ich bereits gesprochen. Die angeborene Tötungshemmung "verbietet" es einem Individuum, ein körperlich unterlegenes, schwächeres Individuum der gleichen Art zu töten. Überwindet das Individuum seine Tötungshemmung und tötet in einer Konfliktsituation ein artgleiches Wesen (weil vielleicht der Hunger eine stärkere Wirkung als die Tötungshemmung hatte), so tritt ein schlechtes Gewissen auf, das der Mensch zunächst mittels Ritualen, später mittels Religionen überwunden hat. Das Gefühl, das nicht zur Handlung zugelassen wurde (hier die Tötungshemmung) entfaltet in der Psyche eine störende Kraft. Diese störende Kraft kann in der Zukunft zu Handlungsproblemen führen, zu einem schlechten Gewissen und zu zukünftigen Entscheidungsschwierigkeiten. Deshalb muss es abgewehrt werden, es muss in Vergessenheit gebracht werden, ins Unbewusste verdrängt werden. Diesen Mechanismus hat die Psychoanalyse aufgeklärt. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass die verdrängten Erinnerungen (an innere Gefühle oder äußere Wahrnehmungen) auch im Unbewussten eine störende Kraft entfalten, die zu Funktionsstörungen (z.B. Blutdruckerhöhung) oder seelischen Krankheiten (Neurosen) führen kann.
Während Freud im schlechten Gewissen (anderer Genese) den Ausgangspunkt der zivilisatorischen Entwicklung sieht, betrachtet die PhilS hierin nur eine Teilursache. Die Abwehr des schlechten Gewissens hat einerseits eine Funktion bei der Entwicklung von „Moral“ und "Religion". Dies im Sinn einer Abwehr. Die Abwehr führt auch zur Entwicklung von bestimmten körperexternen Effektoren. Andererseits ist es jedoch die allgemeine Fähigkeit zur Hemmung biologisch festgelegter Verhaltensmuster durch eine Distanzierung der mit ihnen verbundenen Gefühlen, die den Prozess der Zivilisation in Gang hält.
Die Evolution und deren Fortsetzung beim Menschen, die Zivilisation, hat zur Entwicklung vom körperexternen Effektoren geführt, die eine Fernwirkung haben: der Speer, der Pfeil, das Geschoss, die Rakete, sind ein Beispiel für Effektoren, die zum Töten eingesetzt werden können und deren Fernwirkung immer weiter gesteigert wurde. Darauf hat bereits Kirschmann hingewiesen, der den Menschen als Werfer charakterisiert (Eduard Kirschmann: Das Zeitalter der Werfer – eine neue Sicht des Menschen. Hannover. 1999. ISBN 3000047832). Arthur Koestler bezeichnet den Menschen daher als Irrläufer der Evolution (Arthur Koestler: Der Mensch Irrläufer der Evolution. Die Kluft zwischen Denken und Handeln. Eine Anatomie menschlicher Vernunft und Unvernunft. Fischer Taschenbuch Verlag. Frankfurt am Main. 1989. ISBN 3596242827).
Ich möchte hier auf eine besondere und augenfällige Folge der zivilisatorischen Entwicklung hinweisen, nämlich darauf, dass der Tatort der Tötung des Artgenossen durch die Entwicklung dieser körperexternen Tötungsorgane des Menschen in immer weitere Ferne gerückt ist, bis er schließlich völlig außer Sichtweite gekommen ist. Der Täter, der die Massenmorde befiehlt, hat seine menschlichen Effektoren (die ihm befehlshörigen Soldaten). Diese schießen Bomben tragende Raketen ab und die Tötungen der Artgenossen finden in einem anderen Land statt. Der Täter kann das Sterben und die Qualen seiner hundert, tausend oder millionen Opfer und die Qualen deren Nachfahren gar nicht mehr beobachten. Er hat daher kein Mitgefühl und es kann auch keine natürliche Tötungshemmung ausgelöst werden. Diese Fernwaffen stellen also die perfekte Lösung der Probleme dar, die von der angeborenen Tötungshemmung in der Psyche des Täters ausgelöst werden können, wenn dieser die Tötung eigenhändig vornimmt. Die Tötungshemmung muss erst gar nicht verdrängt werden, weil die Tode und die Qualen der Opfer vom Täter gar nicht wahrgenommen werden müssen.
Die modernen Fernwaffen machen also eine wesentliche Aufgabe der Religionen überflüssig, nämlich das schlechte Gewissen der Mörder zu beruhigen.
Die Entwicklung von Wissenschaft und Technik und in diesem Rahmen von Ferntötungswaffen hat das schlechte Gewissen des Menschen abgeschafft. Die Abschaffung des schlechten Gewissens durch Fernwaffen ist jedoch nicht völlig gelungen.
Hierfür sind zwei wesentliche Gründen anzuführen: der erste ist das Wissen.
Die Zivilisation hat u.a. zu einer neuen psychischen Dimension geführt, zum Wissen.
Das Wissen ist an die Stelle der Wahrnehmung getreten.
Mit Hilfe der Wissenschaften und deren Instrumente können wir Dimensionen erforschen, die sich unserer Wahrnehmung und der daraus resultierenden Vorstellung entziehen. Wir können zum Beispiel mit dem Licht Experimente durchführen, die uns beweisen, dass Licht Teilcheneigenschaften hat, aber auch Experimente veranstalten, die die Welleneigenschaft des Lichts beweisen. Wir wissen also, dass das Licht Teilchen- und Welleneigenschaften besitzt, aber vorstellen können wir uns dies nicht. Unser Wissen geht über unsere Wahrnehmungsfähigkeit und selbst über unsere Vorstellungsfähigkeit hinaus.
Und leider ist es so, dass zur Herstellung des schlechten Gewissens das Wissen ausreicht. Wir müssen die Tötung und wir müssen die Qualen unserer Opfer gar nicht sehen oder sinnlich erfahren; das Wissen reicht aus, um das schlechte Gewissen zu erzeugen. Deshalb birgt das Gewissen wohl auch den Begriff „Wissen“. Es heißt ja nicht schlechte Ge-Wahrnehmung, sondern schlechtes Ge-Wissen.
Der zweite Grund ist natürlich die gleichzeitige Entwicklung von Fernwahrnehmungsorganen.
Die Handelnden im Krieg wollen schließlich auch wissen, ob ihre Bomben getroffen haben und filmen dies mit Akribie. Und den Erfolg ihrer Unternehmungen wollen sie natürlich auch der Öffentlichkeit vorführen und deren Neugier befriedigen. Deshalb wird auch viel Geld damit verdient, der Öffentlichkeit in den Medien die Erfolge beim Töten zu präsentieren, wenn auch aus einer Entfernung, aus der der einzelne sterbende und leidende Mensch unsichtbar bleibt.
Im Ergebnis führt die zivilisatorische Technik zwar zu einer Distanzierung von der Wahrnehmung des Leidens und Sterbens des Mitmenschen, das handelnde Individuum nimmt den Schaden, den es anrichtet, nicht mehr optisch wahr, so dass die Tötungshemmung bei der Tatausführung keine Bedeutung hat. Es bleibt jedoch ein Wissen um die fatalen Folgen der Tat für die Artgenossen, so dass ein schlechtes Gewissen durchaus noch möglich ist und Religion mit ihrer Rechtfertigung der Morde nicht völlig überflüssig ist.
Wir können jedoch unter diesem Blickwinkel auf die Zivilisation noch einen weiteren Mechanismus identifizieren, der das schlechte Gewissen beruhigt, nämlich die Distanzierung vom schlechten Gewissen durch den Untertanengeist.
Rudi Zimmerman |