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Evolutionäre Erkenntnistheorie und Zivilisation
Rudi Zimmerman
Zusammenfassung
Hätte die evolutionäre Erkenntnistheorie Recht mit ihrer Annahme, das die Selektion die Erkenntnisfähigkeit des Hirns im evolutionären Prozess hervorgebracht hat, so sollten auch Lebewesen ohne Hirn, z.B. Einzeller, über diese Fähigkeit verfügen, denn auch sie haben bis heute überlebt, und dies bereits weitaus länger als Hirntiere. Erkenntnisfähigkeit kann also nicht an Nervengewebe gekoppelt sein, sondern sollte dann eine Fähigkeit genetisch gespeicherter Strukturen sein. Der Mensch denkt nicht mehr bildhaft in Form von Filmen, sondern begrifflich. Filmartiges Denken erfordert viel Speicherplatz, ist jedoch äußerst schnell in seiner Berechnung von Bewegungsabläufen, begriffliches Denken ist im Vergleich dazu langsam, aber spart Speicherplatz im Hirn, der anderweitig genutzt werden kann. Begriffe werden von der Gemeinschaft entwickelt. Begriffliches Denken und Sprache verbessert nicht die Überlebenswahrscheinlichkeit des Individuums, sondern der Gruppe. Denken und Sprache wird nicht durch Selektion des Individuums, sondern durch Selektion von Gruppen, die mittels Sprachverständigung erfolgreicher jagen, evolutionär entwickelt. Zivilisation mittels wissenschaftlicher Forschung stellt die Fortsetzung der Evolution dar.
Die Position der evolutionäre Erkenntnistheorie nach Vollmer
Die evolutionäre Erkenntnistheorie erhebt den Anspruch, die menschliche Erkenntnisfähigkeit auf eine objektive Grundlage zu stellen (Wuketits). Ihre Kernaussage lautet, dass sich die menschliche Erkenntnisfähigkeit evolutionär entwickelt hat. Es trifft aus Sicht der Philosophie lebender Systeme (=PhilS) selbstverständlich für jede menschliche Fähigkeit, ob es das Gehen, das Fressen, Ausscheiden oder das Denken ist, zu, dass der Mensch seine biologisch erworbenen Fähigkeit nicht selbst hergestellt, sondern von seinen biologischen Vorfahren genetisch ererbt hat.
Bezüglich des Wahrheitscharakters der von Darwin beschriebenen biologischen Evolution sehe ich keine Differenzen zwischen der evolutionären Erkenntnistheorie und der PhilS. Einigkeit besteht im Besonderen hinsichtlich der unstrittigen Voraussetzung von Erkenntnis, dass aus der Sicht des Individuums ein „Subjekt“ von einem „Objekt“ getrennt ist. Das „Subjekt“ nennt die PhilS auch das ICH. Zum Objekt gehört aus der Sicht des ICHs der eigene lebende materielle Körper, der seinerseits von der Außenwelt getrennt wird, so dass ein Körperinneres von einem Körperäußeren unterschieden wird. Über Sensoren gelangen Informationen aus dem Körperäußeren, der „Umwelt“, in das Körperinnere und werden dort über ein Nerven an das Zentralnervensystem weitergeleitet. Dor werden sie in subjektive Wahrnehmungen verschiedener Art (optische, akustische, olfaktorische u.a.) umgewandelt. Diese Wahrnehmungen registriert das Ich als Subjekt, sie bilden die Grundlage der Erkenntnis. Ich denke, dies als gemeinsamen Ausgangspunkt der Diskussion für beide Diskussionspartner (evolutionäre Erkenntnistheorie und PhilS) akzeptabel dargestellt zu haben. Die erste erkenntnistheoretische Frage wäre die, ob das subjektive „Bild“ (um bei der optischen Wahrnehmung zu beginnen) dem objektiven entspricht. Diesbezüglich gibt es auch eine philosophische Position, die dies abstreitet und daher jegliche Erkenntnis grundsätzlich in Frage stellt. Diese Position kann hier jedoch unberücksichtigt bleiben, da sie wirklichkeitsfern ist und zu keinerlei praktischen Konsequenzen führt.
Bei der Betrachtung der Einzelheiten beginne ich bei der Aussage der evolutionäre Erkenntnistheorie, dass eine Passung subjektiver und objektiver Strukturen vorliege (Vollmer). Sie würden gemeinsam Erkenntnis durch eine Wechselwirkung subjektiver und objektiver Strukturen ermöglichen. Daraus resultierende Erkenntnis sei nützlich, steigere die Chancen für die Reproduktion (S.32). Die interne Rekonstruktion sei zwar nicht immer korrekt, es gäbe Sinnestäuschungen und sie können immer weiter verbessert werden, sie stimme jedoch mit der äußeren Welt überein. Vor allem sei klar, dass von einem Unterschied der Wahrnehmung stets auf einen Unterschied in der Realität geschlossen werden könne. Wahrnehmung sei real, aber nicht immer „objektiv“. Die evolutionäre Erkenntnistheorie löse ein philosophischer Problem und könne der Philosophie versichern, dass unsere subjektiven Erkenntnisstrukturen mit den realen Strukturen übereinstimmen müsse, weil nur so das Überleben ermöglicht werde (S.36). Die Passung der kognitiven Strukturen sei das Ergebnis eines Anpassungsprozesses, auch wenn es sich (noch) nicht um eine ideale Anpassung handele (S.39/40). Eigentlich erkläre die evolutionäre Erkenntnistheorie lediglich etwas Wohlbekanntes. Evolution sei erkenntnistheoretisch ein Prozess von Vermutungen und Widerlegungen. Für das Überleben relevante Falschheit werde in der Evolution eliminiert (S.41). Die evolutionäre Erkenntnistheorie befasse sich mit Begriffen und Hypothesen als kognitive Strukturen, nicht mit Wertungen. Die menschliche Erkenntnisfähigkeit habe sich phylogenetisch entwickelt, jedes Individuum verfüge über sie nun a priori. Da wir über keine andere erkenntnistheoretischen Methoden als über diese evolutionär entwickelten verfügen könnten, sei eine Erkenntnis des Dings an sich unmöglich. „Es ist unmöglich, irgend etwas über das Ding an sich zu wissen (S.43). Die evolutionäre Erkenntnistheorie erkläre im übrigen nicht die Evolution menschlicher Erkenntnisse, sondern nur die Evolution unserer kognitiven Fähigkeiten S.47). Sie behaupte nicht, kulturelle Evolution gehorche denselben Gesetzen wir die biologische Evolution. Im Gegenteil: die jeweiligen Gesetze seinen völlig unterschiedlich (S.48). Die Welt, an die sich unser Erkenntnisapparat im Lauf der Evolution angepasst habe, sei nur ein Ausschnitt der wirklichen Welt. Diese kognitive Nische nenne er „Mesokosmos“ S.51). Um diesen zu beschreiben, legt Vollmer die Grenzen unserer Wahrnehmungsfähigkeit zugrunde. Vollmer kritisiert das Objektivitätspostulat der Wissenschaft. Objektivität könne nie endgültig bewiesen werden S.67. Nach Volmer sei Mathematik eine Strukturwissenschaft wie Logik usw. (S.73), sie sage daher nichts über die Welt aus (S.74). Allerdings sei die Rekonstruktion der realen Welt auch das Ziel des Wissenschaft S. 70). Erkenntnisfortschritt ergebe sich daraus, dass die Theorie so lange modifiziert werde, bis sie zur fest vorgegebenen Realität passe (S.74). Das Neugeborene bringe u.a. genetisch bedingte Information über die Welt mit, Dreidimensionalität, Zeitrichtung, Kausalität, Regelmäßigkeiten u.a., was sich in der Phylogenese bewährt habe (75/76). Unser angeborener Erkenntnisapparat benütze bereits erfolgreich Mathematikkenntnisse (S.76). Allerdings seien Relativitätstheorie oder Quantentheorie unmöglich biologisch relevant und daher Ergebnis der kulturellen Evolution. Höhere Mathematik sei Nebenprodukt der Evolution (S.77). Die individuell a priori vorhandene Erkenntnisfähigkeit sei „lediglich mesokosmisch, angemessen für das Überleben in einer Welt der mittleren Dimensionen“ S.79). Dies betreffe auch das kausale Denken. Von der Ursache werde Energie auf die Wirkung übertragen, was bereits Konrad Lorenz erkannt habe.
Geist und Gehirn seien nach dualistischer Auffassung verschiedene Substanzen in aktiver Wechselwirkung (S.83), nach monistischer Position sei der Geist eine Funktion des Zentralnervensystems.(S.84). Er sei nach Meinung der evolutionären Identitätstheorie als emergente Funktion entstanden. Erkenntnis sei ein geistiger Prozess, eine Gehirnfunktion unter vielen. Wesentliche Vorbedingung sei das Gedächtnis. Wahrnehmung stelle eine Rekonstruktion der äußeren Realität dar. Als dritte Komponente wird die Simulationsfunktion dargestellt, das Hantieren mit Vorstellungen (S.85). Diese mentalen Prozesse seien identisch mit physikalisch-chemisch-neuronalen Prozessen. Wenn diese mentalen Prozesse allerdings nur Epiphänomene physikalischer Prozesse seien, wären sie für die Evolution entbehrlich (S.86). Die evolutionäre Erkenntnistheorie bestreite, dass es sich um derartige Epiphänomene handelt, Bewusstseinsprozesse seien eine Eigenschaft bestimmter physikalisch-chemisch-neuronalen Hirnprozesse.
So weit zur Darstellung der evolutionäre Erkenntnistheorie durch Gerhard Vollmer.
Philosophisch stellt sich als erstes die Frage, ob es überhaupt eine Fähigkeit des Menschen gibt, die man „Erkenntnisfähigkeit“ nennen könnte. Einerseits definiert Vollmer „Erkenntnisfähigkeit“ nicht, andererseits bezeiht er sich in seinen Ausführungen mehr oder weniger auf die Wahrnehmungsfähigkeit. Insbesondere jedoch sei Erkenntnisfähigkeit an die komplexe Struktur des menschlichen Zentralnervensystems gekoppelt, ihre Phänomene (bewusste Wahrnehmung, Vorstellungsvermögen), werden sogar als Eigenschaften bestimmter physikalisch-chemisch-neuronalen Prozesse bezeichnet. Beschreibt diese „Erkenntnisfähigkeit“ ein zu beobachtendes Phänomen?
Das Phänomen, das hier beobachtet wird und aus dem diese Fähigkeit abgeleitet wird, ist letztlich das Überleben eines Tieres (oder einer Pflanze) bis zu seiner Vermehrung. Alle Fähigkeiten, die es dafür benötigte und die genetisch determiniert sind, gibt es an seine biologischen Nachfahren weiter. Erlerntes, also während der kurzen Lebensdauer bis zur Weitergabe der Erbinformation aus Erfahrung erworbenes, kann nicht weitergegeben werden.
Wenn die evolutionäre Erkenntnistheorie nun meint, es müsse hier auch eine „Erkenntnisfähigkeit“ zu nennende Eigenschaft erblich sein, dann hätte ganz besonders die erste lebende Zelle über diese Fähigkeit bereits verfügen müssen, denn auch heute noch leben Einzeller und vermehren sich. „Zum Glück“ könnte man sagen, denn diese Einzeller stehen am Beginn der Nahrungskette, an deren Ende der Mensch steht. Würden sie aussterben, weil ihnen die Überlebensfähigkeit abhanden kommt, hätte das weitreichen Folgen. Stürben gar die Pflanzen aus, wäre jegliches Leben auf der Erde am Ende. Damit wären wir bei einer sehr grundlegenden Erkenntnis der Pflanzen angelangt, die das Überleben des Lebens auf der Erde sichert, ohne die also gar kein Überleben möglich wäre. Es handelt sich hierbei um die Erkenntnis, wie die Lichtenergie der Sonne zur Produktion von Zucker genutzt werden kann. Diese Erkenntnis hat jede Pflanze, ohne über ein Hirn zu verfügen, während der Mensch mit seinem komplizierten Hirn hier vor einem ungelösten Rätsel steht.
Was für eine Eigenschaft oder Fähigkeit meint also die evolutionäre Erkenntnistheorie mit dem Begriff „Erkenntnis“? Und wann wird die Erkenntnisfähigkeit während der biologischen Evolution erlangt? Nach Ansicht der evolutionäre Erkenntnistheorie offensichtlich erst beim Menschen durch die Entwicklung besonderer Hirnstruturen.
Erkenntnis möchte ich als einen Prozess definieren, in dem Wissen erworben wird. Dies bedeutet, dass ein Gegen-stand, ein Objekt, vorhanden sein muss, über das Wissen erworben wird, sowie ein Subjekt, also in diesem Fall Ich oder das Ich eines anderen Menschen. Ein Subjekt, das Wissen über ein Objekt erwirbt, muss zunächst irgendwelche Daten haben, sozusagen Informationen über das Objekt sammeln, bevor es durch die Verarbeitung dieser Daten zu einem Wissen über das Objekt gelangen kann. Voraussetzung dafür ist die Definition eines Objekts.
Der Weg zum Wissen über ein Objekt beginnt also mit der Definition des Objekts, also der Definition einer Begrenzung. Die Grenze zwischen dem Objekt und dessen Umwelt muss zunächst definiert sein. Erst dann kann ich Daten, die ich über ein Objekt erhalte, beispielsweise Eigenschaften des Objekts, diesem Objekt zuordnen. Aus der Kombination dieser Daten (Informationen, Eigenschaften des Objekts) kann ich Rückschlüsse auf das „Wesen“ des Objekts ziehen. Damit näherer ich mich dem an, was dieses Objekt „eigentlich“ bzw. „an sich“ ist.
Zur Beschreibung von Wissenserwerb oder Erwerb von Kenntnissen musste ich bereits eine Reihe anderer Begriffe verwenden, die ich zum Teil in Parenthese gesetzt habe. Ich verwende für die Beschreibung möglichst allgemeinverständliche Begriffe, ich nicht auch noch alle definieren möchte. Dies ist auch nicht in jedem Fall erforderlich, weil manche Begriffe keine exakte Definition erfordern.
So operiert die evolutionäre Erkenntnistheorie selbst auch mit einer Reihe von Begriffen, die sie nicht definiert.
Die Wahrnehmung
Die evolutionäre Erkenntnistheorie beschäftigt sich als erstes mit der Wahrnehmung. Die Wahrnehmung ist die Grundlage unserer Erkenntnis, das hat bereits Kant gesagt. Etwas anderes ist auch nicht möglich. Um zu Erkenntnis zu kommen, benötige wir Daten, und diese erhalten wir letztlich aus unserer Wahrnehmung. Das, was Wahrnehmung uns vermittelt, nennt Kant die empirische Realität. Unsere optische, akustische, olfaktorische usw. Wahrnehmung, darunter fällt im übrigen auch die Berührungswahrnehmung und die Schmerzwahrnehmung, vermittelt uns verschiedene Qualitäten der Objekte außerhalb der Grenzen unseres lebenden Körpers. Aus Sicht unseres ICH verfügen wir zunächst (räumlich) über einen lebenden Körper, der zu uns gehört und der auf Reize aus seiner Umgebung reagiert. Unser Körper tut vieles automatisch, ohne unser bewusstes Zutun, er atmet und isst, verdaut, holt sich Energie aus Objekten der Umwelt, er handelt dabei im Interesse unseres Überlebens. Teilweise tut unser Körper auch das, was wir wollen, die Extremitäten können wir nach unseren Entschlüssen in Bewegung setzen oder stillhalten. Die evolutionäre Erkenntnistheorie setzt bei der Wahrnehmungsfähigkeit an. Wahrnehmung ist ein körperlicher Vorgang, der bei der Reizaufnahme in den lebenden Körper beginnt, also bei den „Sensoren“, bei Nervenzellen, die jeweils auf bestimmte Reize empfindlich reagieren. Es sind Nervenzellen, die darauf spezialisiert sind, auf bestimmte Reize sehr sensibel zu reagieren. Manche Nervenzellen reagieren auf den Einfall elektromagnetischer Wellen bestimmter Wellenlängen, andere reagieren auf Luftverdichtungen (Luftdruckwellen), wieder andere auf chemische Reize usw. Die Reaktion jeder Nervenzelle ist die gleiche: sie depolarisiert, d.h. sie ändert ihre elektrische Eigenschaft. Äußere Reize unterschiedlicher Art werden also einheitlich mit einem elektrischen Reiz beantwortet, der über andere Nerven zum Gehirn weitergeleitet wird. Im Großhirn werden aus diesen Reizen dann bewusste Vorstellungen, die sogenannten Wahrnehmungen, nämlich optische, akustische, olfaktorische usw. Wahrnehmungen. Je nachdem, aus welchem Sinnesorgan kommen, werden also die gleichen elektrischen Reize in ganz unterschiedliche Wahrnehmungen verwandelt, in Bilder, Töne, Gerüche usw. Wie dieses vor sich geht, wird wohl kaum je erforscht werden können, aber eins ist sicher: dass nämlich ohne ein materielles Organ, wie das Hirn, keine derartige Umwandlung von elektrischen Reizen in ein geistiges Phänomen, wie es Bilder, Töne usw. sind, erfolgen kann.
An dieser Stelle melde ich einen ersten Einwand an.
Bis hierhin beschäftigt sich die evolutionäre Erkenntnistheorie mit der Funktionsweise rezeptorisch tätiger Nervenzellen. Dabei liegt der Schwerpunkt auf der elektrischen Seite, die jedoch nur die Reizleitung von der Peripherie zum Gehirn betrifft. Ergänzend möchte ich feststellen, dass es sich um einen Vorgang handelt, bei dem elektrische Reize in chemische Reize umgewandelt werden, und diese dann wieder in elektrische Reize. Bei jeder Übertragung eines Reizes von einer Nervenzelle auf die nächste erfolgen diese Umwandlungsprozesse in den sogenannten Synapsen. Es wird an keiner Stelle ein Reiz im Verhältnis 1:1 weitergegeben, sondern die reizempfangende Zelle findet im synaptischen Spalt Konzentrationsänderungen eines „Transmitters“ vor, den sie aufnimmt und abbaut. Hierbei gibt es erregende Synapsen und hemmende Synapsen. Aus der Summe aller erregenden und hemmenden Synapsen ergibt sich die Folge, dass nun diese Nervenzelle depolarisiert und damit einen Reiz weiterleitet oder nicht. Die interessante Frage wäre, ob es überhaupt das elektrische Reizmuster ist, das bei der Umwandlung in ein geistiges Phänomen ausschlaggebend ist, oder ob es möglicherweise die Änderungen der chemischen Zustände sind, die dafür verantwortlich sind, oder ob es beispielweise die Summe der Umwandlungsprozesse sind, die sich in die entsprechenden geistigen Erlebnisse, wie Bilder. Töne, Gerüche, Empfindungen, Schmerzen usw. umwandeln. Ich bemängele also die Konzentration der evolutionären Erkenntnistheorie auf die elektrischen Nervenimpulse. Dies ist selbstverständlich ein naturwissenschaftlicher und kein philosophischer Einwand. Ob es sich bei den „mentalen Phänomenen“, wie die evolutionäre Erkenntnistheorie „Bewusstsein“ in Zusammenhang mit Wahrnehmung bezeichnet, um emergente Eigenschaften irgendwelche materieller Hirnprozesse handelt, kann dahingestellt bleiben, da dies im Endeffekt eine Glaubensfrage ist. Die PhilS glaubt an gar nichts, also weder an die monistische, noch an die dualistische Version. Nun also zur philosophischen Kritik.
Philosophisch kritisiere ich das implizite Setzen des Beginns des Erkenntnisvorgangs durch die evolutionäre Erkenntnistheorie. Der Erkenntnisvorgang beginnt nämlich, wie bereits oben gezeigt, nicht bei der Wahrnehmung, sondern bei der Unterscheidung von Objekt und „Hintergrund“ des Objekts. Das Universum ist grundsätzlich eine Einheit, und alle in ihr vorhandenen unterschiedlichen Dinge können auf verschiedene Weise geordnet werden. Der Mensch ordnet hier in erster Linie optisch, der Hund wahrscheinlich olfaktorisch, pflanzliche Ordnung erfolgt vermutlich über den Einfallswinkel der Photonen des Sonnenlichts und über die Richtung, aus der Gravitation wirkt. Wenn wir unsere Augen schließen, erleben wir eine akustische Welt, eine Geräuschwelt. Diese Welt erleben wir natürlicherweise besonders nachts. Sie wirkt zum Teil bedrohlich, weil ein Geräusch, das beispielsweise durch ein Tier verursacht wird, nicht in direkten Zusammenhang zur Größe des Tieres steht. Wir neigen dazu, ein Geräusch und andere Wahrnehmungen in Bilder zu transferieren, und stellen uns womöglich ein riesiges und furchterregendes Tier vor, wenn ein Vogel im Gebüsch Geräusche verursacht. Da menschliche Wahrnehmung sich auf die Augen konzentriert, hat die Konzentration der evolutionären Erkenntheorie auf den Sehsinn auch eine gewisse Berechtigung. Es sollte jedoch immer klar sein, dass es sich hierbei lediglich um ein Sinnesorgan unter mehreren handelt, das noch dazu untypisch ist, weil es schließbar ist, während andere Sinne ständig angesprochen werden, auch im Schlaf.
Hier komme ich zu einem Kritikpunkt, der auch noch nicht philosophisch ist, der aber auch nicht nur die evolutionäre Erkenntnistheorie betrifft, sondern auch die Philosophie, nämlich den Bewusstseinbegriff. Den philosophischen Bewusstseinsbegriff halte ich hier für völlig überflüssig, auch sein Gebrauch in der Philosophie ist weitgehend unkritisch und überflüssig. Der Begriff „bewusst“ wird in der evolutionäre Erkenntnistheorie im Sinne seiner medizinischen Bedeutung verwendet. Eine Wahrnehmung im Zustand der Wachheit ist eine bewusste Wahrnehmung. Wir können jedoch auch im Schlaf wahrnehmen. Geräusche gelangen selbstverständlich auch nachts in das dafür zuständige Sinnesorgan, das Ohr. Normalerweise verfügt der Mensch jedoch über einen Mechanismus, der den akustischen Reiz daran hindert, nachts ins Bewusstsein zu gelangen. Die Mutter hat andererseits auch ein nachtaktives Aufmerksamkeitsorgan, dass ihr die Geräusche ins Bewusstsein passieren lässt, die ihr Neugeborenes verursacht. Wer den Begriff „Bewusstsein“ benutzt, sollte also angeben, ob er diesen im Sinn der Medizin verwendet, und so verstehe ich die evolutionäre Erkenntnistheorie, oder ob er diesen im schwammigen Gebrauch der Philosophie benutzt. Das wäre lediglich eine ergänzender Hinweis. Nun aber zurück zur philosophischen Kritik. Die Trennung von Vordergrund und Hintergrund, also die Abgrenzung eines Objekts vom vollständigen Bild im Falle der optischen Wahrnehmung, sollte man zunächst einmal als Willkürakt annehmen. Vollmer sagt dazu lapidar, dass er eine Kenntnis von Dingen der Außenwelt, die im Gedächtnis vorhanden sind, als angeboren voraussetze (Vollmer S.84). Dann wäre also demnach die entscheidende Grundlage der Wahrnehmung einer äußeren Struktur und deren Vergleich mit einer solchen im angeborenen Gedächtnisspeicher nicht erst beim Menschen anzunehmen, denn auch Hirntiere mit Augen tun das. Vollmer äußert sich gar nicht zu der Frage, ob derartige genetisch gespeicherte Fähigkeiten möglicherweise durch den Menschen aktiv änderbar wären, also ob der Mensch von der genetisch-angeborenen Definition eines Objekts abweichend äußere Objekte auch anders definieren kann. Gerade das ist es, was die PhilS behauptet und realisiert. Sie definiert die Objekte nämlich um, weil sie die angeborener Weise festgelegten Grenzen als historisch überholt ansieht. Diese Definition eines äußeren Objekts ist dann Ergebnis von Wissen und nicht von Wahrnehmung. Wahrnehmung kann täuschen, wie auch Vollmer zugibt. Ich sage, Wahrnehmung hat einen evolutionären Zweck (das Überleben, die Weitergabe genetisch gespeicherter Daten), verfolge ich diese Zwecke nicht, können sich auch berechtigte andere Definitionen von Objekten ergeben.
Die erste philosophische Frage sollte die sein, nach welchen Kriterien unsere Wahrnehmung eine wahrgenommene Struktur, z.B. eine optische, als Teil eines Objekts oder als Teil seiner Umwelt registriert.
Die Objekte, die ich wahrnehmen „möchte“, muss ich zunächst definieren, bevor ich sie als solche wahrnehmen kann. Steht nicht an erster Stelle ein Willkürakt, der in der Definition des Objekts liegt? Wo käme dieser in der Evolution her? Welche Begründung hätte er? Obwohl die evolutionäre Erkenntnistheorie diese Frage nicht expliziert so stellt, beantwortet sie diese Frage jedoch.
Es ist, wenn ich die evolutionäre Erkenntnistheorie richtig verstanden habe, das Überlebensinteresse und das Fortpflanzungsinteresse, das diese Unterscheidung von Objekt und Umwelt des Objekts vornimmt. Die Grundthese heißt nämlich, dass sich die Fähigkeiten genetisch vererben, die solche Sinnesorgane generieren, die den Überlebenserfolg und den Fortpflanzungserfolg verbessern. Das könnte bedeuten, dass bereits unser Sinnesorgan „Auge“ darauf spezialisiert ist, solche optischen Strukturen als Objekt zusammenzufassen, die als Einheit bewegen. Die Trennung von beweglichem Objekt (Vordergrund) und unbeweglichem Umfeld dieses Objektes (Hintergrund) wäre also eine eminent wichtige Unterscheidung, die den Überlebenserfolg verbessert. Ob sich nämlich ein bewegliches Objekt in unserer Nähe befindet, von dem Gefahr für mein Leben ausgeht oder ob es sich um ein Objekt handelt, das für mich als Futter in Betracht kommt, hat entscheidenden Einfluss auf meine Bewegungsrichtung, mein Verhalten. Die falsche Reaktion bei der Frage, ob ich mich annähern oder besser flüchten sollte, ist eminent überlebenswichtig. Um derartige Schlussfolgerungen hinsichtlich von Wahrnehmungsorganen zu ziehen, sind nun allerdings keine naturwissenschaftlichen Argumentationen nötig. Aus der Logik des Überlebens ergibt sich die Folgerung, dass Wahrnehmungsorgane, die Fehlinformationen liefern, durch den Vorgang der Selektion ausgesondert werden und Organe, die „wahre“ Informationen liefern, sich fortpflanzen.
Jedes Individuum muss selbstverständlich über solche Rezeptoren verfügen, die ihm über seine Fressfeinde und seine Beutetiere (falls es sich um ein fleischfressendes Tier handelt) „wahre“ Informationen liefert.
An sich handelt es sich nämlich um eine Definition von Wahrheit und nicht um eine Theorie über Erkenntnis. Die evolutionäre Erkenntnistheorie definiert Wahrheit als das Wissen über Objekte, das dem Überleben nützen. Damit will sie auch Grenzen der Erkenntnismöglicheiten zeigen. Unser Wahrnehmungsapparat und unser Datenverarbeitungsapparat, das Hirn, ist durch die Evolution, durch Überproduktion und Selektion, so optimiert worden, dass das Erkennen von Nahrung und Feinden gelingt. Zu ergänzen wäre, dass natürlich auch das Erkennen des Sexualpartners erforderlich ist, da es nicht nur um das Überleben, sondern auch um die Fortpflanzung geht. Die genetischen Daten müssen an die nächste Generation weitergegeben werden, und dazu ist auch das Auffinden eines Partners im Falle der zweigeschlechtlichen Vermehrung erforderlich. Hierfür ist bei einzellebenden Tieren insbesondere der Geruchssinn stark entwickelt, bei Vögeln beispielsweise auch der Hörsinn und ergänzend dazu die Lautbildungsfähigkeit.
Zusammenfassend kann man also sagen, dass bei jedem Tier nur die Wahrnehmungsfähigkeiten entwickelt sein müssen, die zur Trennung von feindlichen Objekten und deren Umwelt erforderlich sind, zum Erkennen solcher Objekte, die als Nahrung dienen (hier spielt übrigens auch des Erkennen von Wasser eine entscheidende Rolle, das in der Regel über den Geruchssinn erfolgt), und die das Erkennen des Geschlechtspartners im Notfall über eine große Entfernung gewährleisten.
Die Reduktion auf das Erkennen der Struktur eines Objekts erklärt aber eben gar nicht den Überlebensvorteil, der damit verbunden sein soll. Der Mensch erkennt einen Bären, von dem er anschließend aufgefressen wird. Das Erkennen dieser Struktur hatte also konkret keinen Überlebensvorteil. Dieser ergibt sich nämlich erst daraus, dass ich die Bewegung des Bären, und damit seine mögliche Absicht, erkenne. Erst dieses Erkennen veranlasst mich zur Flucht und ist damit ein Überlebensvorteil.
Bevor ich zum Datenverarbeitungsorgan (dem Hirn) komme, möchte ich noch zwei Worte zum „Objekt“ verlieren.
Ich habe vorhin ausgeführt, dass die Identifikation (das Erkennen der Struktur) eines Objekts voraussetzt, dass dieses Objekts bereits definiert ist. Was nicht definiert ist, kann ich nicht erkennen. Ich muss das Wahrgenommene, das Gesehene, Gehörte, Gerochene usw. bereits kennen, damit ich es wiedererkennen kann. Das wahrgenommene Objekt muss also mit einem gespeicherten Objekt verglichen werden, damit es als identifiziert werden kann. Wahrnehmung hat also ohne Gedächtnis keinen Erkenntniswert. Wende ich die evolutionäre Erkenntnistheorie hierauf an, kann ich sagen, dass nicht nur die Wahrnehmungsfunktion, sondern auch die Gedächtnisfunktion eine evolutionär erworbene Fähigkeiten lebender Systeme sein muss. Das nur nebenbei. Auch Vollmer gesteht dies nur nebenbei zu. Der hier beschriebene Vorgang kann auch als rekursives Geschehen beschreiben werden, das durch Versuch und Irrtum dazu führt, dass sich ein Objekt gedanklich wirklichkeitsgetreu abbildet. Dies wäre jedoch ein Lerngeschehen, das nicht genetisch vererbt werden könnte. Tatsächlich verfügen ja bereits Neugeborene über anscheinend angeborene in einem Gedächtnis gespeicherte Bilder, die sie mit Wahrnehmungen vergleichen können, so dass sie ohne eine Lernmöglichkeit gehabt zu haben, einen Fressfeind oder eine Nahrung erkennen. Insbesondere muss dies das Geruchsgedächtnis und Geschmacksgedächtnis betreffen. Tiere schmecken sehr viel genauer als Menschen, ob eine Pflanzennahrung Giftstoffe enthält, ohne dass diese Fähigkeit erworben worden sein könnte. Denn dazu wäre es in vielen Fällen zu spät. Hier führt die Selektion durch tödliche Giftwirkung dazu, dass nur die Individuen überleben, deren Geruchs- und Geschmacksgedächtnis ihnen „wahre“ Erkennen vermittelt. Da Erinnerungen offensichtlich genetisch vererbt werden können, darf man wohl schlussfolgern, dass das Erinnerungsvermögen nicht zwangsläufig eine Funktion von Nervenzellen ist, sondern das Erinnerung genetisch gespeichert werden kann. Wahrnehmungen äußerer Ereignisse, die elektrochemisch an das Zentralnervensystem weitergegeben werden, werden demnach offensichtlich mit genetisch gespeicherten Gedächtnisinhalten verglichen. Die Evolution geht jedoch offensichtlich den Weg, derartige genetische Gedächtnisspuren zu reduzieren. Die berühmten Graugansküken Konrad Lorenz` hatten offensichtlich nur noch einen genetisch vererbten Erkenntnisschlüssel, der da lautete, „das erste Objekt, das Du nach Deiner Geburt wahrnimmst, ist Deine Mutter, die für Dein Überleben sorgt. Also folge ihr.“ Schon an dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass es auch bei vererbbaren Gedächtnis- oder Erkenntnisinhalten nicht einfach nur um Wahrnehmung geht, sondern um das Verhalten. Das Tier erkennt nicht nur den Geruch eins Giftes, sondern dies ist mit einer Verhaltensanweisung verbunden: „Diese Pflanze nicht essen!“ Die Schlüsselerkenntnis der Vogelmutter, die einen rechteckig aufgesperrten Schnabel sieht, lautet: „Bitte hier den Wurm hineinstopfen!“ Und differenziert die Vogelmutter nicht zwischen eigenem und fremden Nachwuchs. Auch im Bereich des Menschlichen scheint es so zu sein, dass es bei der Wahrnehmung gar nicht nur um das Identifizieren eines Objekts geht. Unbewegliche Objekte (wie Bäume usw.) werden einem „Hintergrund“ zugeordnet und sich bewegende Objekte werden gezielt wahrgenommen. Wenn ich diese Art der Wahrnehmung einmal in Vorwegnahme des nächsten Kapitels in menschliche Sprache übersetze: es wird nicht ein Dingwort wahrgenommen, sondern ein Satz. Das in Bewegung befindliche Objekt, also sprachlich: ein Satz wird wahrgenommen. Die kleinste Wahrnehmungseinheit ist nicht das Ding (das Wort), sondern der Satz. Wenn Wahrnehmung einen Überlebensvorteil verschaffen soll, dann ist es der Satz, der die kleinste Wahrnehmungseinheit darstellt. Nimmt man es mit dem Überlebensvorteil ernst, handelt sich sogar um noch mehr, nämlich um einen Satz mit einer darauffolgenden Aufforderung im einem schlussfolgernden Nebensatz.
Bezogen auf Tiere spreche ich doch mal lieber von einem Gedanken in dieser Form. Das Tier spricht natürlich nicht, aber es hat Gedächtnisinhalte und Wahrnehmungen, die es mit diesen Inhalten vergleicht. Diesen Vorgang möchte ich bereits als Denken bezeichnen und behaupten, Tiere haben Gedanken nach folgendem Schema:
Die Kuh identifiziert anhand des Geruchs einen Grashalm, was zu dem Aufforderungssatz führt: „den esse ich!“ Sie riecht ein giftiges Gewächs, was die Aufforderung beinhaltet: „stehenlassen!“ Die Katze erblickt eine Maus, die sie optisch identifiziert, was die Aufforderung enthält: „Ganz langsam und leise anschleichen!“ Oder sogar: „Stehenbleiben!“ Ist die Maus in Reichweite, springt sie aus dem Stand mit einem weiten Satz auf die Maus. Beim Menschen ist es ebenso. Der steinzeitliche Jäger identifiziert nicht nur optisch ein Reh, das grast, sondern dieses stellt für ihn ein Signal dar. Für den beobachtenden Jäger ist nicht allein das Objekt lebenswichtig, sondern dessen Bewegung. Ein Reh, das grast oder steht hat eine andere Bedeutung als das Reh, das in weiter Entfernung vorbeirennt. Auch hier enthält das Wahrnehmen eine nachfolgende Aufforderung. Das Reh grast, also kann ich mich langsam anschleichen. Ein Reh springt vorbei, also sind weitere zu erwarten. Der Löwe liegt faul in der Savanne, also ruhig in einer anderen Richtung weitergehen, oder: der Löwe rennt auf mich zu, Schlussfolgerung „Wegrennen!“
Es kommt nun hier nicht darauf an, ob meine Phantasien etwas mit der Realität zu tun haben, meine Aussage sollte jedoch klar sein: Wahrnehmung hat immer nur dann eine Bedeutung, wenn aus ihr Handlungskonsequenzen resultieren. Es müssen also nicht nur äußere Strukturen der Objekte erkannt werden und schon gar nicht ist ein Erkennen des „Dings an sich“ erforderlich, sondern es muss eine Situation erkannt werden und sinnvoll reagiert werden. Das Erkennen einer Situation, ob sie Gefahr birgt oder Nahrung zu erwarten ist, und die entsprechende Reaktion des Individuums bilden eine Einheit. Anhand bestimmter Signale muss die Lage erkannt und sinnvoll reagiert werden. Die Evolution belohnt nicht die Wahrnehmungsfähigkeit als solche, sondern eine Einheit aus Situationserkennen und sinnvoller Verhaltensreaktion. Wir sprechen von einem Reflex, wenn auf einen Reiz eine willentlich nicht beeinflussbare Reaktion des Bewegungsapparates erfolgt. Derartige reflexhafte Reaktionen können nicht erlernt werden. Sie sind auch beim heutigen Kulturmenschen angeboren, wie beispielsweise der Cornealreflex (ein kleiner Gegenstand fliegt in Richtung meines Auge, das reflexhaft geschlossen wird. Bereits wenn ich mit einem Fahrrad fahre, kann diese Geschwindigkeit für den angeborenen Reflex, der sich nicht für diese Fortbewegungsart entwickelt hat, zu langsam sein – die Fliege fliegt mir also ins Auge. Derartige angeborene Handlungs-, aber auch Verhaltensreaktionen, haben immer einen biologischen Sinn und sind evolutionär entwickelt worden. Der Punkt, den die PhilS an dieser Stelle jedoch zusätzlich betont, ist noch ein anderer. Zur Sicherung des Überlebens muss nicht nur ein Wahrnehmungsapparat und ein Gedächtnis vorhanden sein, mit dessen Inhalten das Wahrgenommene verglichen wird, und auch nicht nur ein Bewegungsapparat, der sie erforderlichen Handlungsreaktionen ausführt, sondern es muss, bereits bevor der Mensch sich entwickelt hat, ein Rechenapparat vorhanden sein. Die Katze, die auf eine Maus springt, muss die Entfernung zur Maus in eine Beziehung zu der Kraft setzen können, die sie zum Sprung benötigt. Sie ist nur dann erfolgreich, wenn sie die Maus trifft. Springt sie zu weit oder zu kurz, entkommt die Maus. Besonders die Jagd erfordert einen enormen Rechenaufwand, weil sie einen starken Energieverbrauch darstellt. Um die Situation adäquat einzuschätzen und die Entscheidung zur energieaufwändigen Jagd zu treffen, muss nicht nur die Entfernung zum Objekt, sondern auch die Bewegungsschnelligkeit des Objekt in Beziehung zur eigenen Schnelligkeit gesetzt werden. Der Vogel, der im Winter in den Süden fliegt, muss seine Energievorräte in Beziehung zur Entfernung und Fluggeschwindigkeit setzen. Auch der Bär muss vor seinem Winterschlaf seine Energievorräte in Beziehung zum Energieverbrauch und der Zeit bis zum Frühjahr herstellen. Was Kant als Erkenntnisgrundlagen, die a priori beim Menschen vorhanden sein müssten, identifiziert, Raum, Zeit und Kausalität, sind die Rechengrundlagen jedes Tieres, das jagt, das Vorräte anlegt oder längere energieverbrauchende Handlungen vollziehen muss. Ich möchte sie als Kenntnis von Entfernungen (wie weit ist das Beutetier weg?), als Kenntnis von Zeit (wie lange kann ich mit den vorhandenen Energievorräten überleben?), als Kenntnis von Energie (liefert mir der Verzehr dieses Tieres genug Energie oder muss ich weitere Beute jagen?) und als Kenntnis von Zusammenhängen bezeichnen, letzteres nach dem Schema einer wenn-dann-Funktion: wenn die Pflanze schlecht riecht, dann nicht essen, wenn der Löwe auf mich zurennt, dann wegrennen, wenn wir zusammen ein großes Tier erlegt haben, dann schnell möglichst viel essen usw. Derartige wenn-dann-Reaktionen spielen selbstverständlich beim Auffinden eines Geschlechtspartners ebenfalls eine große Bedeutung, denn es geht in der Evolution nicht nur um das Überleben, sondern um die Weitergabe des genetischen Materials. Das Überleben ist nur Mittel zum Zweck bis zur Paarung, danach kann gestorben werden. Erkennen hat also stets eine Signalwirkung, die eine überlebenswichtige Reaktion nach sich zieht, die letztlich entscheidenden Signale sind jedoch die, die vom Geschlechtspartner ausgehen und die wir als sekundären Geschlechtsmerkmale bezeichnen. Beim Menschen, die ihren Nachwuchs relativ lange versorgen müssen, sind es weiterhin Signale, die das Brutpflegeverhalten und die Beschützungsreflexe auslösen.
Die Wahrnehmung, die Reizverarbeitung (der Vergleich mit Erinnerungen) und die Reaktion bilden eine Einheit, und die Einheit wird evolutionär entwickelt. Dies in verschiedene Richtungen, weil verschiedene Lebewesen unterschiedliche Nahrungsquellen und unterschiedliche Paarungsmodalitäten haben. Erkannt werden also nicht einzelne Objekte, sondern Situationen, wobei die Gefahr für das Überleben und andererseits die Chance zum Überleben durch Nahrungsaufnahme die Maßeinheit für die Beurteilung der Situation abgibt, aus der eine Schlussfolgerung gezogen und eine Handlungsreaktion erfolgt. Dieser „Kreis“ von der Wahrnehmung bis zur sinnvollen Reaktion nach einem wenn-dann-Muster stellt eine Wahrnehmungs-Verarbeitungs-Reaktions-Einheit dar. Diesen erweiterten Blickwinkel der PhilS von der Wahrnehmungsfunktion auf die Einheit von Wahrnehmung, Erkennen einer Situation (Absicht des Objekts) und sinnvoller Reaktion wäre lediglich eine Modifizierung der evolutionäre Erkenntnistheorie und keine eigentliche Kritik. Was hierbei allerdings bewusst ausgelassen wurde, ist die Datenverarbeitung, nämlich die typisch menschliche Verstandestätigkeit. Philosophisch sind ja nicht evolutionär selektierte tierische Fähigkeiten, die wir tatsächlich beobachten können, von Interesse, sondern die menschliche Verstandestätigkeit.
Bevor ich auf die Datenverarbeitung eingehe, möchte ich noch ein Wort zur Kritik der Wahrnehmung verlieren.
Kritik der Wahrnehmung
Wahrnehmung äußerer Struktur wird von der evolutionäre Erkenntnistheorie so als „wahr“ (im Sinne von adäquat sein) angenommen, wie sie ist. Die Wahrheit ist jedoch die Überlebenswahrheit und die Vermehrungswahrheit (die Übervermehrung bei der Erzeugung von Nachkommen) nicht aber die Wahrheit an sich. In Anlehnung an Kant spreche ich also nicht vom „Ding an sich“, das man nicht erkennen kann, sondern von der „Wahrheit an sich“, die der Mensch zu erkennen in der Lage ist.
Der Mensch kann zwar nicht das „Ding“ (das unbewegte Objekt) erkennen, aber in der Wirklichkeit existiert auch gar kein unbewegliches Objekt, sondern es existieren nur Objekte, die sich bewegen. Alles, was existiert, befindet sich in Bewegung. Stillstand existiert nur relativ, nämlich in Bezug auf ein anderes Objekt. Insofern vermittelt uns unsere Wahrnehmung sogar etwas sehr reales, wenn sie sich auf das sich bewegende Objekt konzentriert, bzw. wenn unsere Aufmerksamkeit sich automatisch auf das Objekt richtet, das sich in Bewegung befindet, weil von diesem Objekt Gefahr oder Befriedigung von Bedürfnissen zu erwarten ist.
Weil unsere Wahrnehmung jedoch in dieser Weise evolutionär präformiert ist, nimmt sie solches nicht als zum Objekt zugehörig wahr, was als Unbewegliches ebenfalls zum Objekt gehören könnte. Unwichtige Teile werden gar nicht wahrgenommen und unbeweglichen Teile des Objekts werden nicht als dem Objekt zugehörig wahrgenommen, sondern als getrennte, eigenständige Objekte.
Das Netzt der Spinne betrachten wir als etwas von der Spinne Getrenntes, obwohl wir wissen, das es ihr Werk ist. Die Mücke, die sich darin verfangen kann, wird das wohl anders sehen und kehrt machen, falls sie dieses Netz wahrnimmt. Das Nest des Vogels betrachten wir ebenfalls als etwas nicht zu seinem Körper Zugehöriges, obwohl die Evolution diesbezüglich auch anschließend, als ob sie die Gefährlichkeit dieser Lösung erkannt hätte, einen anderen Weg beschritten und dieses Bauwerk wieder in den Körper der Säugetiere als Uterus eingebaut hat.
Für mich als „Deutschen“ ist es immer wieder sehr erstaunlich, welche Vielfalt an neuen und revolutionierenden Ideen aus „Österreich“ kommen. Ich muss nur an Konrad Lorenz, den Ahnherrn der evolutionären Erkenntnistheorie, aber auch an von Bertalanffny oder von Foerster denken, an Popper als revolutionären Philosophen oder an Sigmund Freud, einen Psychiater-Kollegen, der die Struktur der menschlichen Psyche neu entworfen hat, oder an Watzlawick, den Mitentwickler der Kommunikationstheorie. Bezüglich des hier behandelten Themas muss ich mich über die Ignoranz wundern, die leider einem weiteren Österreicher, der revolutionierende Ansichten und Thesen vertritt, zuteil wird: ich spreche von Hans Hass, der zwar als Tiefseeforscher anerkannt ist, aber als Revolutionär der Erkenntnisse zum Körper des Menschen völlig verkannt wird. Unsere Erkenntnisfähigkeit ist evolutionär darauf programmiert, die körperexternen Bestandteile eines Lebewesens als getrennte, nicht zu seinem Körper gehörige Dinge zu sehen. Hier führt und unsere evolutionär programmierte Erkenntnisfähigkeit jedoch auf einen Irrweg, den wir verlassen könnten, wenn wir unseren Verstand gebrauchen. Der Verstand könnte uns sagen, dass die Produkte unserer Tätigkeit, die wir als Werkzeuge, Maschinen oder sonstige Hilfsmittel benutzen, ebenso zu unserem Körper gehören, wie unsere inneren Organe. Hans Hass hat dies klar erkannt und durch viele praktische Beispiele belegt, dass sich der Mensch durch die Produktion derartiger Hilfsmittel „zusätzliche Organe“ geschaffen hat, deren Nutzung verschiedene Vorteile hat. Vor allem erhöhen sie die Kraftentfaltung des Menschen durch Nutzung von Energie, der Mensch sich nicht erst durch Aufnahme in seinen lebenden Körper einverleiben muss. Die PhilS betrachtet diese Produkte als Ergebnis menschlichen Wachstums, das sich auch nach Beendigung des Wachstum des lebenden Körpers fortsetzt. Da es sich häufig um Funktionserweiterungen der menschlichen Extremitäten handelt, wenn der Mensch sich ein Auto zur Beschleunigung seiner Fortbewegung oder ein Flugticket kauft, um sich damit vorübergehend Flügel anzuschaffen, spricht die PhilS von körperexternen Effektoren. Unsere evolutionär erworbene Erkenntnisfähigkeit betrachtet derartige Erkenntnisse, die von unserer ererbten Wahrnehmung abweichen, als Unsinn. Tatsächlich beschreiben derartige Theorien die Realität besser. Deshalb werden sie sich auch auf lange Sicht durchsetzen. Sie sind ungewohnt, weil sie einerseits der angeborenen Wahrnehmung widersprechen und weil wir selbst nur das als zu unserem Körper zugehörig betrachten, mit dem wir eine Nervenverbindung haben. Unseren lebenden Körper nehmen wir ebenfalls wahr. Wir haben eine Fülle von Rezeptoren, die unserem Hirn Daten über die Zusammensetzung unseres Blutes, über die Position unserer Gelenke und über unsere Organe melden. Derartige Daten erleben wir als Gefühle. Das Hirn hat hier genetisch programmierte Sollwerte, die ständig mit den gemessenen Istwerten verglichen werden. Abweichung dieser Istwerte von den Sollwerten der Homöostase erleben wir als Gefühle, als Hunger oder Durst oder Appetit, Begehren oder Wunsch, als Atemnot oder als Panikgefühl, wenn in der Außenluft über längere Zeit der Sauerstoff knapp wird bzw. die Kohlendioxidkonzentration im Blut immer weiter ansteigt. Unsere zusätzlichen Organe bereiten uns im Unterschied zu den körperinneren Organen keine Schmerzen, wenn sie beschädigt werden. Deshalb erleben wir sie als nicht zu uns zugehörig. Unsere objektive, vom Wissen ausgehende Erkenntnis könnte uns jedoch, wenn wir einmal die evolutionär erworbene Erkenntnisfähigkeit überwinden, die Realität adäquater vermitteln, so dass wir erkennen, dass der Mensch nicht nur aus lebenden körperlichen Anteilen besteht, sondern auch aus weiteren zusätzlichen Organen oder körperexterne Effektoren.
Die Reizverarbeitung
Da ich hierzu bereits das wesentliche gesagt habe, fasse ich mich kurz. Die Verarbeitung des Wahrgenommenen ist nach Ansicht der PhilS ein Rechenvorgang. Allgemein wird von „Erfahrung“ gesprochen. Aber was kann man darunter verstehen? „Erfahrung“ bedeutet aus meiner Sicht nicht, dass die Katze in ihrem angeborenen Erinnerungsspeicher eine Liste gespeichert hat, in der jede Entfernung mit einem korrellierenden Kraftaufwand verglichen wird, sondern dass sie sozusagen eine Krafteineinheit mit einer Entfernung bei einem bestimmten Eigengewicht ererbt hat. Das wäre ökonomischer, weil sie dann zusätzlich nur die Fähigkeit bräuchte, Multiplikationsaufgaben zu lösen. (bei doppelter Entfernung doppelter Kraftaufwand oder so ähnlich). Der Vogel oder die Biene muss ebenfalls über eine irgendwie funktionierende Rechenfähigkeit verfügen. Derartige Tiere müssen Entfernungen in Beziehung zu ihrer Fluggeschwindigkeit setzen und Richtungen einhalten. Ändert die Bewegung des Luftraums, in dem sie sich während des Fluges aufhalten (was man so Wind nennt), müssen sie reagieren und ihre Flugrichtung und –geschwindigkeit der Windänderung anpassen. Ohne eine irgendwie geartete Rechenfähigkeit können sie nicht überleben.
Die PhilS stellt daher die erkenntnistheoretische Frage: was muss ein Tier können, um in seiner Situation zu überleben? Die Frage: was kann ich wissen? ersetzt sie durch die Frage: was muss ich wissen? Für das, was ich zum Überleben bis zur Geschlechtsreife und zum Auffinden eines Sexualpartners sowie zum Vollzug des Geschlechtsakts nicht wissen muss, kann die Evolution keine Erkenntnismöglichkeiten entwickelt haben.
Wenn ich zur Erkenntnis des „Dings an sich“ über keine evolutionär entwickelten Organe und Fähigkeiten verfüge, muss ich auf andere Weise die dazu erforderlichen Fähigkeiten erwerben. Möglicherweise ist dies auch gelungen. Denn der Mensch hat nun zunächst eine Fähigkeit entwickelt, die in dieser Form kein anderes Tier besitzt, auch wenn sie im Grunde nicht völlig neu ist, nämlich die Sprach- und damit verbundene Denkfähigkeit.
Der Titel des Buches „Die Evolution des Denkens“ ist etwas hoch gegriffen, wenn sie sich auf das begriffliche Denken bezieht. Dieses begriffliche Denken ist nämlich eine Schöpfung des Menschen, die sich eben gerade nicht biologisch entwickelt hat. Sie hat sich auf dem Boden der eben beschriebenen Fähigkeiten entwickelt, nämlich der vor allem der Fähigkeit, Situationen (Objekt plus Bewegung des Objekts) zu erkennen, wenn-dann-Schlussfolgerungen zu ziehen und eine Beziehung zwischen Entfernungen und dem erforderlichen Kraftaufwand zu deren Überwindung herstellen zu können.
Vollmer scheint die mathematischen Fähigkeit, über die bereits Tiere zur Verbesserung des Überlebens- und Fortpflanzungserfolgs verfügen müssen, stiefmütterlich zu behandeln, wie eine Nebensächlichkeit (Vollmer, S.73-77).
Wenn ich nun zum Thema „menschliche Sprache“ und „begriffliches Denken“ komme, verlasse ich also den Boden der evolutionäre Erkenntnistheorie und komme zur „kulturellen Evolution“ (Vollmer u.a.), den ich Zivilisation nenne.
Das menschliche Denken
Das, was wir (und sicher auch Vollmer und die evolutionäre Erkenntnistheorie) als „Denken“ bezeichnen, wenn wir diesen Begriff benutzen, ist das begriffliche Denken. Die Art des Denkens, die bereits im Tierreich vorhanden ist, und über das die evolutionäre Erkenntnistheorie sich äußert, ist das bildhafte Denken, das wir aus dem Traum kennen. Der Mensch ist ein Tier, das schwerpunktmäßig mit den Augen wahrnimmt und dessen Hirn eine optische Welt konstruiert, deshalb träumen wir bildhaft und beispielweise nicht olfaktorisch. Der Begriff „Traum“ bezeichnet sozusagen einen Film, der im Schlaf vom Hirn erzeugt wird. Freud nennt diesen Film den manifesten Traum. Dieser manifeste Traum enthält danach Wunscherfüllungen, vermutlich stellt er jedoch auch andere Gefühle dar, z.B. Ängste. Das wäre dann der latente Traum, den es zu analysieren gilt. Das Denken der menschlichen Tiervorläufer ist vermutlich ebenfalls ein bildhaftes Denken. Der sich im Geäst fortbewegende Affe muss über ein exaktes räumlich-bildliches Vorstellungsvermögen verfügen – und auch er muss „rechnen“ können, nämlich Muskelkraft in Beziehung zur Entfernung setzen können. Der Mensch bildet jedoch verbale Begriffe und denkt im Wachzustand dementsprechend begrifflich-verbal.
Dieses begriffliche Denken wird nun von einer evolutionäre Erkenntnistheorie nicht erfasst.
Dennoch ist die Frage berechtigt, welche Überlebensvorteile dieses begrifflich Denken möglicherweise hat, denn es hat sich seit seiner Entstehung gehalten, weiterentwickelt und differenziert, verschiedene Wissenschaftssprachen haben sich aus ihm entwickelt.
Was ist ein Begriff? Ein Begriff ist ein akustisches Zeichen, das anstelle eines Bildes verwendet wird. Das Hirn kann Bilder fusionieren und aus tausend verschiedenen real wahrgenommenen Bäumen einen Einheitsbaum herstellen, der als bildliches Symbol alle Bäume darstellt. So weit handelt es sich weiterhin um ein visuelles Bild. Einem derartigen optisch in der Phantasie vorhandenem Bild wird ein Laut zugeordnet. Dies nenne ich dann einen Begriff. Mit großer Sicherheit waren die ersten Begriffe einsilbig. Da einsilbige Wörter irgendwann nicht mehr sicher unterscheidbar sind, kamen anschließen zweisilbige Begriffe usw.
Ich habe oben bereits darauf hingewiesen, dass überlebensrelevante Wahrnehmung nicht Objekte betrifft, sondern zusätzlich deren Bewegung bzw. deren Verhalten. Ob ein Bär friedlich dahertrottet oder mich erkannt hat und mich angreift, ist ein wesentlicher Unterschied. Es ist also überlebenswichtig, das Objekt zusammen mit seiner Bewegung, und damit seiner möglichen Intention, zu erkennen und zu benennen. Oben führte ich bereits aus, dass es sich also um das Erkennen eines Satzes handelt, also eines Objektes zusammen mit seiner Tätigkeit. Wenn das Objekt zunächst als Bild dargestellt wird, wird die Tätigkeit eines Objekts zunächst bildhaft als Film dargestellt, so dass man das Tätigkeitswort als einen Begriff definieren kann, der einen Film (Bewegungsablauf) darstellt. Der Laut, der diesen Film akustisch symbolisiert, ist das Tätigkeitswort. Da ein wahrgenommenes Tier verschiedene Tätigkeiten ausführen kann, macht auch die Trennung von Dingwort und Tätigkeitswort einen Sinn, wobei es kein prinzipieller Unterschied ist, ob diese zwei Silben später optisch als Schrift in zwei Wörter getrennt oder zusammen dargestellt (geschrieben) werden. Zunächst werden Laute, also Wörter, gebildet, die bereits am Beginn als „Paar“ einen Satz darstellen, der ein Tier und seine Bewegung darstellt. Der Satz symbolisiert also einen Film. Der Sinn dieses Films besteht jedoch darin, zu einer überlebensfördernden Reaktion des Individuums zu führen, sonst hätte er keine evolutionäre Bedeutung (hier beim Menschen sollte man nun allerdings bereits von einer zivilisatorischen Bedeutung sprechen). Die Aufforderung besteht daher aus einem Befehlslaut, einem Wort, das einen Befehl zu einer Handlung enthält, und mit dem vorher dargestellten Film in einer logischen wenn-dann-Beziehung steht. Im Notfall reicht auch der blanke Befehl, ohne den erklärenden Satz (Film) davor. Der kurze Satz mit einer anschließenden Aufforderung kann beispielsweise lauten: „Bär kommt, renn!“
Dies wären die Vermutungen zu den Inhalten und zur Konstruktion erster Laute (Begriffe), ihrer Bedeutung, und ihrer grammatikalischen Konstruktion. Sprachwissenschaftler sind möglicherweise bereits zu ähnlichen Resultaten gekommen.
Aus Sicht der PhilS sind 2 Implikationen erwähnenswert.
Erstens die hirnphysiologischen Konsequenzen und zweitens die Schlussfolgerungen für die Zuordnung der Begriffsbildung. Auch hierbei können wir Prinzipien der evolutionäre Erkenntnistheorie anwenden.
Hirnphysiologisch ist der Übergang vom bildhaften filmerischen Denken zum begrifflichen Denken mit einer enormen Reduktion der Informationsmenge, gemessen in bits, verbunden. Die Informationstheorie hat als eine Einheit für eine Informationsmenge, ich würde sagen für eine Datenmenge, das Bit festgelegt. Dies misst jedoch lediglich eine Datenmenge, nicht jedoch die Bedeutung der Daten. Wenige Bits können eine große Bedeutung haben und viele Bits eine geringe oder gar keine. Die Bewertung einer Botschaft richtet sich nach einem völlig anderem Kriterium als die Datenmenge, die zur Übertragung einer Information (im Sinne der PhilS) erforderlich ist. Wenn ich hier von Information spreche, meine ich also im Gegensatz zur Informationstheorie den Bedeutungsinhalt des übertragenen Signals, während ich die Menge an Bits, die zur Übertragung erforderlich ist, als Datenmenge bezeichne. Diese so verwendeten Begriffe bezeichnen das Gemeinte besser.
In dieser Terminologie kann ich also sagen, dass die Umwandlung eines optischen Films in akustisch übertragene Signale die erforderliche Datenmenge erheblich reduziert. Es handelt sich also bei der Begriffsbildung hirnökonomisch betrachtet um eine Datenreduktion, so dass gleichzeitig im Hirn enorme Speicherkapazitäten frei werden. Der Übergang vom filmerisch-optischen Denken (vom Augendenken) zum begrifflichen Denken (Hördenken oder Ohrendenken) setzt also Hirnkapazität frei, die nun für andere Zwecke genutzt werden kann.
Durch die Umwandlung vom bildhaften zum begrifflichen Denken gewinnt der Mensch also Hirnmasse, obwohl die materielle Masse des Hirns gleich groß bleibt. Informationstechnisch gesagt: mit der gleichen Menge an zur Verfügung stehenden Bits kann der Mensch nunmehr erheblich mehr Informationen (im Sinn der PhilS) speichern. Dieser Gewinn ist es, der eine solche, möglicherweise aus der Not heraus entstandenen Lösung des Überlebensproblems, zu einer Dauerlösung macht. Diese Problemlösung ist nun zwar genetisch nicht vererbbar, aber jedes Neugeborene wird seitdem sofort nach seiner Geburt mit bestimmten Lauten konfrontiert, die seine Eltern verwenden, übt zunächst die Lautbildung und erlernt sehr schnell akustische Begriffe (Worte) und deren Entsprechungen in der Außenwelt. Sein angeborenes bildhaftes Denken, das wir noch aus dem Traum kennen, wird sozusagen für den Wachzustand „gelöscht“ und dadurch Speicherplatz geschaffen, der für begriffliches Denken, unser „Tagdenken“ genutzt werden kann.
Nun zur zweiten Implikation der Umwandlung vom bildhaften in begriffliches Denken.
Das bildhafte Denken kann sehr schnell ablaufen und diese rasante Denkgeschwindigkeit versetzt das Individuum in Lage, mit ausreichender Schnelligkeit aus einer Gefahrensituation zu verschwinden oder in einer Hungersituation Beute zu erjagen. Für diesen Überlebenszweck benötigt der zivilisierte Mensch sein bildhaftes Denken gar nicht mehr. Aber das Individuum benötigte in der Urzeit zur Verbesserung seiner Überlebensaussichten auch keine begriffliche Sprache, sondern lediglich sein bildhaftes Denken. Schon deshalb kann sich Sprache und begriffliches Denken auch nicht evolutionär entwickelt haben.
Akustische Lautsignale zur Übertragung von inhaltlichen Information mit wenigen Bits haben ihren Sinn nur in der Gruppe, im Clan, in der Gemeinschaft. Akustische Lautsignale dienen der Kommunikation. Die Bedeutung der akustische Signale wird in der Gruppe kommunikativ festgelegt. Ein akustisches Signal hat nur in der Gruppe Sinn (Bedeutung) und seine Bedeutung wird von der Gruppe in einem Einigungsprozess festgelegt.
Akustisch übermittelbare Signale (Sprache) sind eine Schöpfung der Gruppe, des Kollektivs, und keine Schöpfung des Individuums. Wenn das Individuum nun beginnt, begrifflich zu denken, und damit seine frei gewordenen Hirnkapazitäten sinnvoll nutzt, dann denkt es mit Hilfe kollektiv festgelegter Begriffe. Begriffliches Denken ist somit keine Fähigkeit des Individuums, sondern die Fähigkeit einer Sprachgemeinschaft. Derartige Kollektive oder Gemeinschaften werden von der PhilS als lebende Systeme höherer Ordnung bezeichnet.
Das begriffliche Denken ist also eine Fähigkeit des lebenden Systems höherer Ordnung.
Ich vergleiche das menschliche Individuum gern mit einem Wassermolekül. Das Wassermolekül kann sich aus dem Wasser, seinem nichtlebenden System höherer Ordnung befreien und durch die Sonnenenergie in Bewegung versetzt in den Himmel schweben. Während dieses Fluges ist das Wassermolekül ein Individuum. Bereits wenn es sich im Himmel mit anderen Wassermoleküle zu einer Wolke zusammentut, wird es zu einem Element eines nichtlebenden System höherer Ordnung. Es vereinigt sich mit anderen Molekülen wieder zu Wasser, das nun eine Eigenschaft hat, die man dem einzelnen Molekül nicht ansieht: als Wasser gehorcht es der Schwerkraft, der Gravitation und kann nunmehr nur noch abwärts fließen. Das menschliche Individuum gehorcht nun durch die kollektiv festgelegten Lautsignale dem Denkgesetz der Gemeinschaft. Es wird durch die begriffliche Sprache zu einem Element eines lebenden Systems höherer Ordnung. Es wird degradiert zum Teil einer Masse. Es denkt nun in Begriffen seiner Sprachgemeinschaft. Begriffliches Denken ist also keine Fähigkeit des menschlichen Individuums, sondern eine Fähigkeit der Sprachgemeinschaft. Begriffliches Denken ist kollektives Denken. Es ist Gemeinschaftsfähigkeit. Bei nichtlebenden Systemen spricht man von Emergenz, wenn sich durch den Zusammenschluss von Atomen oder Molekülen zu einem System höherer Ordnung eine neue Eigenschaft zeigt. Die Sprache kann also auch als Emergenzphänomen bezeichnet werden.
Sie macht das Individuum zwar zum kleinen unbedeutenden und austauschbaren Element einer organisierten Masse, aber das Individuum verfügt seinerseits über einen wichtige Fähigkeit, nämlich über die offensichtlich genetisch vererbte Fähigkeit zur Identifizierung. Das Individuum identifiziert sich mit diesem lebenden System höherer Ordnung, mit seiner Sprachgemeinschaft, seiner Nation, und eignet sich damit „phantastisch“ die Größe und die Erfolge, die Gemeinschaftskraft dieser Sprachgemeinschaft, dieses Kollektivs oder dieser Nation, an. Das menschliche Individuum verfügt über biologisch-genetisch vererbte Belohnungssysteme, die Erfolg mit einer Ausschüttung von Glückshormonen und den damit verbundenen narzisstischen Befriedigungsgefühlen belohnen. Menschliches Verhalten folgt diesen Glücksgefühlen, und die Identifikation mit dem großen lebenden Systems der Sprachgemeinschaft, der Nation, verschafft ein Zufriedenheitsgefühl, das die Kränkung kompensiert, die mit der erwähnten Degradierung zum unbedeutenden Teil einer organisierten Masse verbunden ist.
Die begriffliche Sprache verbessert den Überlebenserfolgt der Gruppe, weil sie die Gruppe in die Lage versetzt, als Gemeinschaft zu handeln, das Verhalten der Mitglieder zu koordinieren. Damit wird der Jagderfolg verbessert, es können große Tiere gemeinschaftlich erlegt werden oder Treibjagden veranstaltet werden. Insbesondere hat die über Sprache (Kommunikation) verfügende menschliche Horde einen Vorteil gegenüber einer möglicherweise noch bildhaft denkenden Nachbarhorde. Sie verbraucht die zur Verfügung stehenden Nahrungsquellen (Tierhorden) für sich und vergrößert sich, so das Nachbarhorden verhungern. Der Fortpflanzungserfolg kann sich zusätzlich dadurch erhöhen, dass im Konfliktfall (Nahrungsmittelknappheit) Mitglieder der Nachbarhorde (möglicherweise männliche) durch bessere Verabredungsmöglichkeiten in einen Hinterhalt gelockt werden und umgebracht (eventuell kannibalistisch als Nahrung verwendet) werden, so dass gleichzeitig Konkurrenten um die weiblichen Mitglieder des Nachbarclans aus dem Weg geräumt worden sein könnten, was den Fortpflanzungserfolg der sprechenden Horde weiter erhöhen würde. Dass ein sprachlich-begriffliches Denken zu evolutionärer Überlegenheit über eine nichtsprechende Konkurrenzgruppe führt, bedarf wohl keiner weiteren Begründung. Wichtig dabei ist, dass es sich hierbei nicht um den evolutionären Erfolg eines mutierten Individuums handelt, sondern um den Erfolg einer Gruppe.
Dass die Befähigung zum begrifflichen Denken also einen Überlebensvorteil der sprechenden Gruppe darstellt, findet seine zwanglose Begründung in der evolutionäre Erkenntnistheorie.
Das wissenschaftliche Denken und die Technik
Nun meint Vollmer zwar einerseits „In gewisser Hinsicht können wir die Evolution wissenschaftlicher Erkenntnis als eine Fortsetzung der biologischen Evolution ansehen, …“ (Vollmer, S.48 unten), andererseits sagt er sehr klar, dass die kulturelle Evolution nicht denselben Gesetzen gehorche wie die biologische Evolution. Die jeweiligen Gesetze seine völlig unterschiedlich Volmer, S.48 oben).
Auf die jeweilige „Gesetze“ geht er dabei gar nicht ein. Erst wenn die Gesetze der biologischen und die der kulturellen Evolution bekannt sind, könnte beide verglichen und die Feststellung Vollmers getroffen werden.
Zu diesem Punkt kommt die PhilS bei nüchterner Betrachtung zu einem ganz anderen Ergebnis. Es handelt sich nämlich bei der Grundlage beider Evolutionen um die gleichen Grundsätze oder wirkenden Gesetze, nämlich um die Methode der Erzeugung von Überschuss und der Selektion. Für die biologische Evolution ist dies geklärt, bereits Darwin sah in der Überproduktion von Nachkommen und in der Selektion die Grundlagen der Evolution. Hinsichtlich der wissenschaftlichen Evolution weist selbst Volmer darauf hin, das Popper diese Ähnlich beschrieben habe. Die Grundlage des wissenschaftlichen Fortschritts besteht doch unzweifelhaft darin, dass die Wissenschaftler eine Fülle von Ideen, Hypothesen und Theorie entwickeln, was eine Überproduktion darstellt, und dass der wissenschaftliche Versuch zu einer Selektion führt. Überproduktion und Selektion ist auch hier realisiert. Die PhilS nennt die Fortsetzung der biologischen Evolution und ihrer Prinzipien beim Menschen Zivilisation. Die wissenschaftlich-technische Evolution ist ein Teil dieser Zivilisation. Im Lauf dieser Evolution haben sich inzwischen sehr viele Arten und Unterarten von Wissenschaft gebildet, ähnlich wie in der biologischen Evolution. Ebenso haben sich die technischen Produkte, die nämlich die Umsetzung dieser Ideen und wissenschaftlichen Erkenntnisse in die Realität sind, nach evolutionären Gesichtspunkten weiterentwickelt. Aus dem ersten Auto hat sich ein ganz neuer Zweig von Unterarten verschiedener Hersteller und Modelle entwickelt. Der entscheidende Punkt ist jedoch nicht nur die Bildung von „Mutationen“ oder Variationen, sondern die Selektion. Nach Ansicht der PhilS ist hier das Individuum als Käufermasse der „Selektor“. Der sogenannte „Markt“ besteht aus einer Überproduktion und einem Überangebot von Waren einerseits und dem auswählenden Käufer andererseits. Letzterer selektiert, ist der „Selektor“ (Zimmerman 2008). Was nicht gekauft wird, keinen „Absatz“ findet, versinkt in Vergessenheit, wird nicht nachproduziert, die entsprechenden Firmen „sterben“, machen Pleite, das, was jedoch gekauft wird, wird nicht nur weiter produziert, sondern auch weiter entwickelt. In der Wirtschaft herrschen also die gleichen Prinzipien und Gesetze wie in der biologischen Evolution
Die Zivilisation
Bezüglich der Zivilisation, also der Weiterführung der Prinzipien von biologischer Evolution im „Menschenreich“, haben die Evolutionstheoretiker und andere Wissenschaftler offensichtlich das Problem, die leicht erkennbaren Tatsachen aufgrund moralischer Bedenken zu „übersehen“. Freud (Sigmund Freud) hat den Vorgang der Verdrängung beschrieben: was aus ethisch-moralischen Gründen verwerflich ist, fällt einer sogenannten „Zensur“ anheim. Diese bewirkt, dass der Bewusstseinsinhalt nicht zum Bewusstsein zugelassen wird und im Unbewussten verbleibt. Zusätzlich hat er verschiedene Abwehrmechanismen beschrieben, nämlich die „Verdrängung“ und insbesondere auch die „Ideologisierung“. Die Denkinhalte, die dem bewussten Ich peinlich sind, die der Vorstellung von der eigenen Persönlichkeit zuwiderlaufen, werden verdrängt. Die Tatsachen, die nicht übersehbar sind, werden umgedeutet und zu einer Ideologie verarbeitet, die das Gegenteil der verdrängten Realität beweisen soll.
Die Beschreibung der Realität des menschlichen Zivilisationsprozesses sollte im Rahmen einer wissenschaftlichen oder philosophischen Untersuchung zwar selbstverständlich wertfrei, ohne moralische Wertungen möglich sein, ist es aber in der Geschichtswissenschaft und selbst in der evolutionären Erkenntnistheorie nicht, ja Geschichtswissenschaft dient gerade der Verdrängung dessen, was sie wertfrei beschreiben sollte, wenn sie Wissenschaft wäre.
Zivilisation läuft nach der Überzeugung der PhilS nach den gleichen Prinzipien ab, wie die biologische Evolution, nämlich denen von Überproduktion und Selektion.
Überproduktion ist hier einerseits die biologische Überproduktion von Nachkommen, denn die Gesetze der biologischen Evolution verschwinden nicht plötzlich mit der Entstehung von Menschen. Es ist ganz offensichtlich, dass die Menschheit als Ganzes sich – besonders in den letzten Jahrzehnten – im Sinne einer Überproduktion vermehrt. Dies ist eine Tatsache, die verdrängt wird, indem statt von Überproduktion von Menschen von Nahrungsmittelknappheit gesprochen wird. Mit der Betonung der Folge dieser Übervermehrung, nämlich der Nahrungsmittelknappheit, die gesetzmäßig eintreten muss, wenn die Menschheit sich entsprechend den biologischen Gesetzen übervermehrt, wir die Folge dieser Überproduktion betont, nämlich die Nahrungsmittelknappheit. Diese ist natürlich von der Menschheit durch ihre Überproduktion von Nachkommen selbst verschuldet worden. Darüber wird jedoch geschwiegen. Das Verschweigen ist übrigens eine Abwehrmechanismus, der selten erwähnt wird. Die Verknappung von Ressourcen auf der Erde ist in der Evolution natürlich stets ein Anlass zu verstärkter Selektion gewesen, was auch naturwissenschaftlich keines besonderen Abstraktionsvermögens zu bedarf, um dies zu erkennen. Die Konkurrenz zwischen den Arten um die Nahrung ist der wichtigste selektieren Mechanismus, der die biologische Evolution vorangetrieben hat.
Nun zur technischen Evolution, ebenfalls der Zivilisation zugehörig. Technische Produkte werden nicht nur vom Käufer durch ihre abstrakte Kaufentscheidung selektiert, sondern auch nach ihrem Nutzen, also einm wichtigen Motiv, das in die Kaufentscheidung eingeht. Bestimmte Produkte (Waren) haben nun allerdings einen sehr großen Selektionsvorteil, wenn es um das Überleben geht. Evolutionäre Erkenntnistheorie sagt uns ja gerade, dass das weiterentwickelt wird, was einen Selektionsvorteil im Kampf ums Überleben hat. Tötungswaffen haben nun ganz eindeutig diesen Selektionsvorteil und werden selbstverständlich auch so genutzt. Dazu werden sie ja produziert. Je größer ihr Selektionsvorteil, desto besser ist eine Tötungswaffe. Auf diesem Auge scheinen jedoch die evolutionären Erkenntnistheoretiker blind zu sein, wenn sie meinen, menschliche Entwicklungsgeschichte laufe nach ganz anderen Prinzipien wir die biologische Evolution ab. Die verdrängten moralischen Bedenken und die unbewusste „Zensur“ der Wissenschaftler, die zu dieser Fehleinschätzung führt, ist nun lediglich für die Fortsetzung wissenschaftlicher Forschung nachteilig, was ist jedoch mit der moralischen Zensur der Allgemeinheit, nämlich der menschlichen Gesellschaft. Die Tatsachen zu sehen, kann ja nicht so schwer sein. Sie bestehen in der Ausrottung der Bevölkerung Nord- und Südamerikas, der Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung Afrikas und ihrer Verwendung als Sklaven, in der Gründung von Kolonien in Afrika, Asien und in der Ausrottung der Urbevölkerung Australiens. Alles das sind Tatsachen, die wir mit Hilfe der Wirksamkeit der Gesetze der biologischen Evolution von Überschussproduktion und Selektion im Menschreich leicht erklären können. Aber diese wissenschaftliche Erklärung stößt auf moralische Bedenken, wird zensiert, wird mit hilfe traditioneller Geschichtsschreibung verdrängt und sie wird mit Hilfe von Ideologien abgewehrt. Diese Ideologien dienen der Abwehr des Schuldgefühls, das aus diesen Aktionen der Menschen mit überlegener Zivilisation eigentlich zu erwarten wäre. Natürlich sind die eigentlichen Täter der Massenmorde selektorischen Hintergrunds längst verstorben, aber sie werden immer noch als Helden verehrt. Diese Heldenverehrung dient natürlich der Abwehr des Erkennens der Realität. Besondern ist es jedoch eine religiöse Ideologie, die der Abwehr des Schuldgefühls dient. Diese religiöse Ideologie hat einen Gottessohn erfunden, der von seinem Gottvater geopfert wurde, um die Menschen von ihrer Schuld zu befreien. Durch den Glauben an diesen Gott werden sie von Schuld befreit und kommen nach dem Tod ins Paradies. Ein wesentlicher Grund, der nach dieser Religion zu einer Schuld geführt haben soll, bietet jedoch einen Blick auf die Realität: Kain hat seinen Bruder erschlagen. Das symbolisiert aus Sicht der PhilS der Ursprung der Entwicklung von Religion: der Brudermord. Man kann wohl davon ausgehen, dass der Urmensch auch die Tötungshemmung evolutionär miterworben hat (das unterlegene Tier bietet seine Kehle zum tödlichen Biss, das hemmt das überlegene Tier, so dass der Unterlegene Artgenosse überlebt). Die Überwindung dieser Tötungshemmung ist nach Analyse der PhilS der Ursprung von Riten, die schließlich zur Bildung von Religion geführt haben. Aber auch heute ist christliche Religion eine Ideologie, die Abwehrfunktion hat. Sie dient der Abwehr des Schuldgefühls, das für die unmoralischen Taten der zivilisierten Europäer angemessen wäre. Betrachten wir es mit den Augen der evolutionäre Erkenntnistheorie, so könnte man sagen: auch diese religiöse Ideologie hatte einen Selektionsvorteil, sie half den Tätern vermutlich auch real, ihre menschenfeindlichen Handlungen als gute Taten umzudeuten und ohne schlechtes Gewissen zu morden - und das ist der Grund dafür, dass sie sich weiterentwickelt hat.
Die Identifikation des Individuums mit den Interessen des übergeordneten Systems
Die Philosophie lebender Systeme trennt grundsätzlich das lebende System der Ordnungshöhe Individuum von lebenden System höherer Ordnung. Die Trennung vollzieht bisherige Geschichtswissenschaft nicht und stellt daher die Geschichtsentwicklung als Ergebnis individueller menschlicher Entscheidungen dar. Tatsächlich sind jedoch lebende System höherer Ordnung, wie Staaten, Nationen u.a., handelnde Einheiten. Diese Einsicht übersteigt das menschliche Vorstellungsvermögen, obwohl sie nahe liegt. Nicht Individuen sprechen Kriegserklärungen aus oder rotten sich zu Heeren zusammen, um einen Nachbarstaat zu überfallen, sondern es handelt sich hierbei um politische Entscheidungen, die in Handlung umgesetzt werden. „Politische Entscheidung“ heißt jedoch, dass es sich um die Entscheidung einer lebenden Systems höherer Ordnung, um die Entscheidung eines Staates handelt. Das Individuum verliert in derartigen Situationen seine Individualität, es wird zu einem Glied in einer Masse, das im Interesse des Staats oder der Nation handelt. Dies betrifft nicht nur das Individuum unterer Rangordnung, sondern auch die Individuen in Leitungsfunktion. Diese schwören sogar bei ihrer Amtseinführung, den Interessen der Allgemeinheit zu dienen. Die Unterwerfung unter das Interesse des lebenden Systems höherer Ordnung scheint biologisch im Individuum verankert zu sein. Es ist bereits im Tierreich bei gruppenbildenden Arten zu beobachten. Handelt eine Individuenmasse als Einheit, ist das ohne eine Koordination des Handelns gar nicht vorstellbar. Derartige Koordinierungen sind sogar bei nichtlebenden Systemen aufgrund bestimmter äußerer Bedingungen zu beobachten und werden hier als Emergenz bezeichnet. Bei lebenden Systemen hat das Individuum offensichtlich eine genetische Prägung zur Identifikation mit dem Interesse des übergeordneten Systems, das als höherwertig betrachtet wird. Das individuelle Überlebensinteresse tritt zugunsten des Überlebensinteresses des übergeordneten Systems in den Hintergrund. Dies beeinflusst auch das Denken und verändert sich nicht durch die Fähigkeit zu begrifflichem Denken. Es ist im Gegenteil so, dass die Verhaltensänderung beispielweise durch Eintritt einer Nation in den Kriegszustand primär ist, und dass das begriffliche Denken die Funktion hat, diese Verhaltensänderung zu begründen. Ähnliches sieht man bei Versuchen mit posthypnotischen Befehlen. Die Versuchsperson erhält in der Hypnose den Befehl, nach Aufwachen aus der Hypnose das Fenster zu schließen und gleichzeitig den Auftrag, diesen Befehl nicht zu erinnern. Nach Beendigung der hypnotischen Sitzung schließt die Person tatsächlich das Fenster und begründet diese Aktion rational (es sei kalt). Begriffliches Denken kann also im Gegensatz zur allgemeinen Vorstellung zur Begründung von Handlungen verwendet werden, die eine nicht bewusste Ursache haben. Dieser Vorgang erklärt, dass die Identifizierung des Individuums mit den Interessen des Staats und seine Unterwerfung unter diese Interessen unbewusst ablaufen kann und im Nachhinein rational oder religiös Begründungen gefunden werden können. Mit anderen Worten handelt also im Falle von koordinierten Massenaktionen das Individuum nicht im Eigeninteresse, sondern als Teil eines Masse. Dies hat bereits Elias Canetti beobachtet, auch le Bon hat das beschrieben. Die PhilS erklärt dieses Phänomen mit angeborenen genetisch gespeicherten Handlungsbereitschaften, die durch den Erwerb begrifflichen Denken lediglich nachträglich rational begründet werden und macht daher auch nicht einzelne Individuen verantwortlich für Eroberungsaktionen oder für völkerrechtlich verurteilenswerte Handlungen, weil deren verantwortliche Handlungseinheit das lebende System höherer Ordnung ist. So wird es offensichtlich auch von den Menschen unausgesprochen verstanden, so dass die Nachfahren der Handelnden an Schuldgefühlen für die Taten ihrer Vorfahren leiden und sie auch von den Menschen anderer Nationen immer noch im moralischen Sinn verantwortlich gemacht werden.
Taten der Vergangenheit können selbstverständlich nicht mehr rückgängig gemacht werden, für die Zukunft sollte jedoch jedes Individuum dessen sehr bewusst sein, dass eine Identifikation mit den Interessen einer Nation oder einer religiösen Gemeinschaft und eine Unterwerfung unter diese die Gefahr birgt, sich an Taten zu beteiligen, die m Sinne des Menschenrechts verwerflich sind.
Rudi Zimmerman, Juli 2008
1 Wuketits, Franz M.: Epilog: Eine neue >>realistische Philosophie<<? In: Die Evolution des Denkens. Piper. München Zürich. 1983. ISBN 3492027938. S. 361-366
2 Vollmer, Gerhard: Mesokosmos und objektive Erkenntnis – Über Probleme, die von der evolutionären Erkenntnistheorie gelöst werden. In: Die Evolution des Denkens. Piper. München Zürich. 1983. ISBN 3492027938. S. 31ff
3 Lorenz, Konrad: Kants Lehre vom Apriorischen im Lichte gegenwärtiger Biologie. In: Die Evolution des Denkens. Piper. München Zürich. 1983. ISBN 3492027938. S.118
4 Canetti, Elias: Masse und Macht. Fischer Taschenbuch. Frankfurt am Main. 1996. ISBN 3-596-13512-5
5 Le Bon: Psychologie der Massen. Stuttgart 1982 (Kröner) |