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Der Auftritt
Neulich sitze ich in einer kleinen Kapelle. So eine Art geräumiger Sarg für höchstens etwa 50 Personen. Natürlich lebende, die sich dort mit einer akustischen Darbietung unterhalten lassen wollen.
Der ganze Saal ist innen mit Holz vertäfelt, einschließlich der gewölbten Decke. Zusammen mit dem Licht der Kerzen erzeugt das Holz eine sehr warme Stimmung, die die Kälte außerhalb vergessen macht.
Särge sollte man eigentlich lieber innen schön mit Schnitzereien gestalten und nicht außen, sonst hat der Tote ja nichts davon, überlege ich.
Ich sitze also da und träume wie üblich so vor mich hin, da wird es plötzlich heller. Nicht etwa, weil jemand das Licht eingeschaltet hat, sondern weil die Künstlerin den Raum betritt. Ich vertrete ja seit etwa 10 Jahren schon die Theorie, dass der Mensch, also das Individuum, mit seinem Eigentum, seiner Bekleidung, seiner Wohnung, seinem Auto usw. eine Einheit bildet, die ich "System Mensch" nenne, aber dies hier ist der lebende Beweis für die Richtigkeit meiner Theorie. Die Verifikation meiner These. Da betritt also eine Künstlerin den Raum, die mit ihrem Kleid eine Einheit bildet, eine leuchtendes System bestehend aus einem menschlichen Körper mit einer goldsilbernen Umhüllung, die in den Raum strahlt.
Das Material dieser von menschlichem Geist und Händen geschaffenen zusätzlichen Haut scheint die Fähigkeit zu besitzen, Berührung zu verstärken. Es verstärkt die Ausstrahlung der Haut nach außen und, da bin ich sicher, auch eine Berührung des Kleides nach innen auf den Körper, der mit diesem Kleid verwachsen zu sein scheint. Ein Verstärker in beide Richtungen. Die Hand eines Liebhabers, der dieses Kleid berührt, würde auf der lebenden Haut Ströme der Erregung erzeugen. Selbst Blicke wären vermutlich der Haut unter diesem Kleid spürbar. Es wäre eine Sünde, den Inhalt von dieser Hülle zu trennen, diese Einheit zu zerstören!
Nun ist die Künstlerin ja nicht gekommen um elektromagnetische Wellen auszustrahlen, sondern um die Luft in Schwingungen zu versetzen.
Es fällt mir schwer, meine Aufmerksamkeit von der optischen auf die akustische Wahrnehmung zu lenken, als der Vortrag beginnt.
Rudi Zimmerman
Mit einem Klick auf diesen Text kommen Sie zur Homepage der Künstlerin, die mich so sehr erfreut hat.
Ich danke Ihr hiermit für diesen Genuss |