Die Sprache als Wir-Leistung
Kapitel 1.7. des Buchs : Zivilisation als Fortsetzung der Evolution. Die Entwicklung der Erdbevölkerung zum System Menschheit. ISBN 978-3-00-024701-9
Bisher habe ich individuelle Leistungen beschrieben. Daher habe ich die menschliche Sprache noch nicht behandelt. Die Wahrnehmungen des Äußeren, also die Konstruktion von Bildern, Tönen usw., und des Inneren, das Rechnen und die daraus resultierende Tat, ist der grundsätzliche Regelkreis eines lebenden Systems, dessen Schließen durch ein erfolgreiches Handeln zur Annäherung an Wahrheit führt.
Im Zentrum jedes Regelkreises steht ein Sollwert, der hergestellt werden muss. Dieser Sollwert sichert das Überleben. Dieses ist gekoppelt an eine bestimmte wohldefinierte chemische Zusammensetzung des Inneren des lebenden Systems, beispielsweise die Sauerstoffkonzentration und die Glucosekonzentration. Daher ist dieser Sollwert („Überleben“) in konkrete messbare Sollwerte aufgeteilt, die genetisch gespeichert sind und die mittels körperinterner Rezeptoren ständig gemessen und an die Regelungszentrale (das Gehirn) gemeldet werden. Dies ist, wie auch die Wahrnehmung der Umwelt durch die Sinnesorgane und die Konstruktion von Modellen, eine Leistung des Individuums. Sie ist eine Leistung jedes lebenden Systems der Ordnungshöhe Individuum. Beim Menschen kann man diese als Ich-Leistung beschreiben.
Bei meinen Ausführungen zu den körperexternen Organen des Menschen habe ich bereits die kollektive Herstellung jener erwähnt und den Begriff der Zivilisation definiert.
Körperexterne Organe sind zunächst lediglich Funktionserweiterungen der natürlichen Organe: die Funktion der Hand wird durch den Faustkeil verbessert, durch das Messer und den Speer, die Funktion der Beine/Füße durch Schuhe, die Schutz- und Wärme-Funktion der Haut durch Kleidung. Auch die könnte man sich noch durch eine individuelle Schöpfung vorstellen.
Es entwickelt sich jedoch aus dem gemeinsamen Überlebensbedürfnis der Urhorde auch etwas grundsätzlich Neues, das über den Fortschritt der Menschen und über ihr Heraustreten aus der Tierwelt entscheidet, nämlich die Sprache und vor allem deren Symbolisierung durch optische Zeichen, die Schrift. Der Schall (die Sprache) ist nur kurzfristig und über kurze Entfernung ein geeigneter Datenträger, die visuell festgehaltenen Schriftzeichen sind über größere Entfernungen und weitaus größere Zeiträume transportierbar.
Deshalb ersetzt die Schriftsprache den genetischen Datenträger und kennzeichnet den Übergang vom Tierreich zum Menschenreich.
Am Anfang steht jedoch wie immer eine Fähigkeit, die bereits im Tierreich vorhanden ist, nämlich die Sprache.
Sprache besteht aus akustischen Zeichen, die als Symbol für Be-griffe fungieren. Akustische Zeichen werden bereits im Tierreich verwendet. Für den Menschen ist kennzeichnend, dass er diese Zeichen auch optisch darstellt (Schrift) und diese Daten extrazellulär in Büchern oder auf Festplatten usw. speichert. Die Schriftsprache mit ihren neuen Speichermöglichkeiten, die die genetische Vererbung ersetzen, kennzeichnet also den Übergang vom Tierreich zum Menschenreich.
Damit ist allerdings auch ein entscheidender Nachteil verbunden:
Sprachgemeinschaften entwickeln sich regional und teilen daher die Menschheit in verschiedene Sprachgemeinschaften. Diese Trennung führt zur Neubildung von Entitäten, nämlich von Staaten und Glaubensgemeinschaften. Diese handeln dann wie die Entitäten im Tierreich, die Arten. Sie konkurrieren gegeneinander und bekriegen sich.
Ein Begriff hat für das Individuum nur in der Gemeinschaft eine Bedeutung. Er dient der Verständigung mit dem Mitmenschen und ist eine Schöpfung des Kollektivs, nicht eines Individuums.
Der Begriff bildet sich nicht in meinem Hirn, sondern er wird in einem Prozess gebildet, der sich in der Gemeinschaft entwickelt. Seine Entstehung ist eine Art „Evolution“, vergleichbar mit eines Gens. So, wie sich ein erfolgreiches Gen in der Interaktion mit der Umwelt bildet, indem es die Überlebenschancen seines Trägers vergrößert, so wird ein Begriff dadurch gebildet, dass er kommuniziert wird. Nur durch die Übereinkunft mit dem Mitmenschen darüber, welcher Begriff in Zukunft zur Bezeichnung für einen Vorgang verwendet wird, wird der Begriff zu einem Symbol für etwas, das stattfindet.
Wie schon gesagt, ist nichts ohne Tun, ohne Handlung, ohne Bewegung. Der Satz definiert immer ein Ding und eine Handlung, trennt Subjekt/Objekt und Prädikat. Die Trennung in Subjekt/Objekt und Prädikat, in Ding und Handlung, findet im begrifflichen Denken statt, das das Ding und die Handlung deshalb trennt, weil ein lebendes System zu unterschiedlichen Handlungen fähig ist. Die Satzbildung ist also Folge der Existenz lebender Systeme.
Entscheidend ist hier, dass jeder Begriff ein Wir-Begriff ist, jeder Satz ein Satz der Gemeinschaft, Folge einer Einigung innerhalb einer Gruppe handelnder Menschen.
Daraus folgt an sich logisch eindeutig, dass begriffliches Denken stets Wir-Denken ist, nie individuelles Denken.
Da ein Begriff immer nur Resultat einer Einigung einer Gruppe über die Zuordnung eines Sprachsymbols zu einer Sache oder einem Tatbestand ist und sein kann, ist jede Kombination von Begriffen zu einer Sprache ein Gemeinschaftsphänomen. Und sofern der Mensch in Begriffen denkt, denkt er nicht privat individuell, sondern gemeinschaftlich.
Mit anderen Worten: Sprache ist die Schöpfung eines lebenden Systems höherer Ordnung. Sprache ist keine individuelle Leistung, sondern eine Leistung der Horde, des Clans, der Sprachgemeinschaft. Wenn in meinem begrifflich Hirn gedacht wird, denkt die Gemeinschaft, die Sprachgemeinschaft.
…
Wenn der Philosoph den Versuch unternimmt, unabhängig zu denken, ist es unausweichlich, dass er im Falle einer Neuordnung des Wahrgenommenen auch neue Begriffe entwickeln muss, die auf den Widerstand seiner Mitmenschen stoßen, weil sie nicht verstanden werden können. Sie sind im eigentlichen Sinn noch kein „Begriff“, sondern Privatsprache eines Autisten. Wer individuell sieht und individuelle Begriffe benutzt, kann nicht verstanden werden und kann dies auch nicht erwarten. Der so handelnde Philosoph ist ein echtes Individuum, weil er nicht nur individuell wahrnimmt (das tut jeder), sondern auch individuelle Begriffe verwendet. Wer neu denkt, denkt allein. Selbst wenn die neuen Begriffe und das neue Denken die Realität adäquater darstellen, erfordert es einen langen Zeitraum, bis sich die neuen Begriffe durchsetzen und zu allgemeiner Übereinkunft, zum „Begriff“ werden.
Begriffe können sich selbstverständlich auch nur in einer Gruppe durchsetzen und zu Begriffen werden, mit der kommuniziert werden kann. Deshalb ist Sprache regional begrenzt und deshalb gibt es auch sehr viele Sprachen. Und wie jeder Sprachwissenschaftler weiß, sind die Begriffe verschiedener Sprachen nicht identisch, so dass eine Übersetzung von einer Sprache in eine andere immer problematisch ist.
Jedes Individuum ist eingebunden in eine Sprachgemeinschaft, und da die Sprachgemeinschaften sehr groß sind, eine Masse darstellen, ist begriffliches Denken und Sprache praktisch in jedem Fall ein Massenphänomen, ein Vorgang, der nicht einem Individuum zuzuordnen ist, sondern einem lebenden System höherer Ordnung.
Wenn ich also Begriffe habe und mit Hilfe dieser Begriffe denke und spreche, so ist dieses Denken und Sprechen Massendenken und Massensprechen.
Wahrnehmen und Fühlen sind beim Menschen Ichleistungen, begriffliches Denken und Sprechen sind Wirleistungen.
Indem ich begrifflich denke und spreche, bin ich nicht mehr ich selbst, sondern ein Teil einer Masse.
Nicht Ich denke sprachlich, sondern die Masse spricht in mir. Ich könnte als Individuum aus logischen Gründen gar nicht sprachlich denken.
Indem ich mich sprachlich ausdrücke, versuche ich, individuelles Wahrnehmen und Fühlen in Symbole der Masse zu übersetzen. Ich bleibe nur so lange Ich, wie ich ohne Verwendung von Begriffen wahrnehme und fühle (= innere Wahrnehmung). Die nichtsprechende Pflanze und das nichtsprechende Tier sind also lebende Systeme der Ordnungshöhe Individuum, die mehr sie selbst sind als ich. Nur wenn ich nicht denke, bin ich ICH, beispielsweise im Schlaf. Freud hat für die psychischen Vorgänge im Schlaf und für die auch gelegentlich im Wachen vorkommenden bildhaften Vorstellungsabfolgen wie schon einmal erwähnt den Begriff des „primärhaften“ Denkens geprägt und Sprache mir ihrer Logik, die im primärhaften Denken nicht gilt, als „sekundäres“ Denken bezeichnet.
Rudi Zimmerman Gesellschaftsphilosoph |