Die Damenwahl
Ich sitze in einem Waggon der Berliner U-Bahn älteren Datums, bei der sich zwei Reihen von Fahrgästen gegenüber befinden. Neben mir eine Mutter mit Kind, mir gegenüber eine ältere Dame, nach meiner Schätzung über das gebärfähige Alter sicher hinaus, aber dennoch nicht unattraktiv für einen älteren Herrn wie mich. Sexuelle Wünsche oder sagen wir mal direkt, Appetit auf mich, konnte ich nicht erwarten, und sollte mit dieser Einschätzung auch recht behalten.
Die Aufmerksamkeit der Dame konzentrierte sich ganz auf den kleinen Balg neben mir, der noch nicht einmal sprechen konnte. Mit mir hätte sie rein theoretisch hochgeistige Gespräche führen können. Aber danach stand ihr nicht der Sinn. In Sekundenschnelle ging in ihr eine Verwandlung vor sich. Sie mutierte in einen quakenden Säugling.
Sie blabberte unverständliche Laute, gestikulierte und grimmassierte als wäre sie gerade in eine Irrenanstalt aufgenommen worden. Ich war entsetzt. Aber der kleine Wicht, der gerade anfing zu laufen und der völlig unfähig zu einer Verbalisierung seiner Bedürfnisse war, schien an dieser regredierten Dame sehr interessiert. Er antworte mit Blicken, blabberte und prustete zurück und es entspann sich eine anscheinend sehr unterhaltsame Kommunikation zwischen diesen beiden. Als Mann, der einer Frau höchst interessante Überlegungen zur Hegelschen Ideenlehre hätte mitteilen können, war ich völlig uninteressant. Einfach Luft.
Und so wurde mir nebenbei wieder einmal verdeutlicht, was ich schon in jungen Jahren falsch gemacht hatte. Das weibliche Geschlecht sucht keinen Partner für anstrengende Gespräche, sondern will seinen Muttertrieb verwirklichen. Dafür braucht es natürlich ein möglichst kleines Kind. Der Mann und der Kontakt mit ihm muss dafür leider vorübergehend in Kauf genommen werden. Ihre Erfüllung findet sie jedoch ganz woanders.
Ich sah der Dame an, dass sie sich sehr zusammennehmen musste, sich auch gut beherrschen konnte. Am liebsten hätte sie den Kleinen genommen und an ihr Herz gedrückt. Ihm womöglich die Brust gegeben.
Schade. Dazu kam es nicht. So hatte ich von der ganzen Sache rein gar nichts. Nur die Erinnerung, dass ich auch mal ein ganz süsser Säugling war und ohne Worte eine Frau glücklich gemacht hatte.
Rudi Zimmerman Philosoph lebender Systeme Autor |