Der genetische Code als Wissensspeicher
Kapitel 1.6. des Buchs : Zivilisation als Fortsetzung der Evolution. Die Entwicklung der Erdbevölkerung zum System Menschheit. ISBN 978-3-00-024701-9
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Die Gene „wissen“, wie die Materie ihrer Umwelt (der Zelle) zusammengesetzt werden muss, damit ein Individuum entsteht, genau gesagt ein lebendes System der Ordnungshöhe Individuum, das sich bewegen und vermehren kann. Dieses Wissen ist etwas Geistiges, das in materieller Form gespeichert ist. Dieses Wissen ist für das Gen überlebensnotwendig. Der Transporteur des Gens, das Individuum, lebt nur vorübergehend. Es wird vom Gen zur Sicherung seines Überlebens benötigt. Sobald das Gen diesen gebaut hat, teilt dieses Individuum sich und legt damit eine Kopie des Gens an. Oder es sucht sich bei zweigeschlechtlicher Vermehrung einen Partner zur Vermehrung seiner genetisch gespeicherten Daten. Da der Ort dieses Wissensspeichers die Zelle ist, spreche ich auch von intrazellulärer Wissensspeicherung, wenn ich genetisch gespeicherte Daten meine.
Das Wissen der Gene umfasst nicht nur den Bauplan für das Individuum, sondern auch Verhaltenstrategien, Handlungsregeln für dieses Individuum und vor allem: Handlungsziele.
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Allgemein ist das Chromosom ein Wissensspeicher. Dieses Wissen resultiert aus einer Auseinandersetzung mit der nichtlebenden und lebenden Umwelt. Die Evolution wäre damit als ein Voranschreiten des Wissens, als ständiger Wissenszuwachs, als Lernprozess definiert. Wer lernt, überlebt, wer nicht lernt, wird aussortiert.
Die Wissenschaften stellen eine Fortsetzung der Evolution dar. Sie benutzen die gleiche Erkenntnismethode wie die Evolution. Die Erkenntnismethode ist: Überproduktion von Individuen (in der Evolution) bzw. Überproduktion von Hypothesen (Ideen) in den Wissenschaften und Selektion: in der Biologie durch den Tod der weniger überlebensfähigen Individuen, in der Wissenschaft durch das wissenschaftliche Experiment, das die Hypothese verifiziert oder falsifiziert.
Diese gleiche Methodik führt zum gleichen Resultat, nämlich zu einem Voranschreiten des Wissens. Evolution und Wissenschaft sind Wissensgewinn.
Wenn man beides vergleicht, könnte man sagen, dass eine unserer Wissenschaften (z.B. die Physik) sozusagen einem Chromosom entspricht. Seine Bestandteile, die Gene, würden erfolgreichen Ideen entsprechen, oder:
Die Daten, die ein Gen enthält, entsprechen einer erfolgreichen Idee.
Ein stabiles Gen ist eine erfolgreiche Idee. Oder: das Gen ist eine materiell gespeicherte Idee.
Zum Beispiel: die Idee des Chlorophylls, die Grundidee des Lebens, die Voraussetzung für die Energiegewinnung auf dem Planeten Erde ist, ist eine erfolgreiche Idee, die stabil ist und sich daher auch relativ stabil in allen lebenden Systemen findet, in fast allen Pflanzen sowieso, aber auch bei Tieren in der Konstruktion des Moleküls, das für den Sauerstofftransport zuständig ist, des Hämoglobins. Die erfolgreiche Idee muss also nur minimal modifiziert werden, um auch anderswo nützlich zu sein.
Eine Idee, die in einem Gen steckt, ist etwas, das dem lebenden System nützlich ist, und eine Idee in den Wissenschaften kann eben auch verschiedenen Wissenschaften nützen.
Wahrscheinlich setzt sich das Chlorophyll bzw. das Hämoglobin bereits auch aus vielen Ideen/Genen zusammen, die sich in den Vorstufen des Lebens entwickelt haben.
Derartige Feinheiten können wir hier jedoch übergehen. Das Grundprinzip ist, dass die Methodik des Wissensgewinns, die in der Evolution genetisch gespeicherter Daten oder genetisch gespeicherter Ideen vorgezeichnet ist, sich im wissenschaftlichen Denken und Handeln des Menschen fortsetzt.
Die Methodik ist also konstant, aber es ändert sich auch etwas.
Was ändert sich?
Die Individuen als Datenträger werden in der Evolution geopfert. Sie sind Beiwerk, nebensächlich. Das Wesentliche ist das Weiterleben der Ideen, zunächst der genetisch gespeicherten Ideen, beim Menschen das Weiterleben der wissenschaftlichen Ideen.
Die wissenschaftlichen Ideen werden beim Menschen benutzt, um Waffen zu produzieren und damit die weniger gut bewaffneten Datenträger (Mitmenschen) auszurotten. Da setzt sich das evolu-tionäre Mittel der Selektion im Krieg fort.
Aber: das wissenschaftliche Experiment ersetzt eigentlich das evolutionäre Mittel des Eliminierens des Schwächeren. Krieg und Mord wären gar nicht mehr erforderlich um festzustellen, ob eine Idee erfolgreich ist. Und: die wissenschaftliche Methode des Erkenntnisgewinns beim Menschen würde auch die Überproduktion von Nachkommen überflüssig machen. Beides, die evolutionären Strategien der Überproduktion von Nachkommen und der Ausrottung der Schwächeren existiert beim Menschen fort, obwohl beide Mittel nicht mehr notwendig sind, um Wissensgewinn zu erzielen.
Hieraus ergibt sich die ethische Forderung der Philosophie lebender Systeme, auf Überproduktion von Nachkommen und auf Krieg zu verzichten.
Bezogen auf die Menschheit bedeutet diese Forderung praktisch: die Kulturen, die die Existenz der Menschheit durch Überproduktion von Nachkommen gefährden, müssen dieses Verhalten abstellen, und im Gegenzug müssen die Kulturen, die über Spitzentechnologien verfügen, darauf verzichten, diese zur Produktion von Massenvernichtungswaffen und zur Kriegsführung zu nutzen.
Man kann diese ethische Forderung auch anders formulieren: die Individuen müssen ihren Energieverbrauch den vorhandenen Ressourcen anpassen. Das bedeutet im Klartext: auf der einen Seite ist Steigerung des Energieverbrauchs durch Überproduktion von Nachkommen abzustellen, auf der anderen Seite die Steigerung des Energieverbrauchs durch Technik und deren Abfallprodukte.
Aber das nur nebenbei. Derartige Forderungen, die sowieso bereits jedem denkenden Menschen seit langem bekannt sind und hier nur eine neue Begründung finden, sind in den Wind gesprochen. …
Auch bezüglich dieser Verhaltensprogramme ist in der Evolution eine Tendenz, eine Entwicklungsrichtung, erkennbar.
Die Evolution schreitet von einer Verhaltensprogrammierung zu einer Zielprogrammierung voran.
Während das Verhalten niederer Tiere relativ genau programmiert wird, werden im Lauf der Entwicklung die Verhaltensprogramme immer offener, die Tiere erhalten immer mehr Freiheit, bis schließlich beim Menschen das Optimum der bisherigen Zielprogrammierung erreicht ist. Da bin ich dann wieder bei den beiden Verhaltenszielen, die ich bereits seit der Schaffung der Philosophie lebender Systeme postuliere: dem Ziel des Überlebens, genannt Selbsterhaltung, und dem Ziel der Ausbreitung, genannt Selbstentfaltung.
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Wachstum und Verhalten sind nebenbei bemerkt nur zwei Varianten von Bewegung. Wachstum ist Bewegung in Form einer Größenzunahme ohne Veränderung des Ausgangsorts. Die Ungenauigkeit ist die Reaktion des lebenden Systems auf das chaotische Verhalten der nichtlebenden Natur. Das Wetter und das Klima sind nicht vorhersehbar. Auch genetische Handlungsprogramme sind keine Wahrsager und können Veränderungen der Umweltverhältnisse nicht absehen. Deshalb ist die Ungenauigkeit eingeplant. Die Ungenauigkeit erlaubt ein Überleben auch bei Veränderung der Umweltverhältnisse in einem bestimmten Rahmen. Je größer dieser Rahmen, desto höher die Überlebenswahrscheinlichkeit.
Nun aber doch zum Sinn der Entwicklung von genetischen Handlungsprogrammen hin zum Denken und der Freiheit des Menschen.
Dem Affen wächst beispielsweise aufgrund seiner genetischen Programme ein Fell. Natürlich auch anderen Tieren. Dieses bietet Schutz bei Kälte. Das Fell hat aber Nachteile bei Hitze. Fellbehaftete Tiere können also nur in relativer Kälte leben. Besser wäre ein Fell, das nur bei Kälte wächst und bei Hitze verschwindet.
Eine derartige Hautoberfläche lässt sich jedoch nur schwer genetisch programmieren. Körperliche Wachstumsprozesse sind langsamer als Temperaturschwankungen der Umgebung. Benötigt wird Wachstum, das die gleiche Geschwindigkeit hat wie möglichen Temperaturschwankungen. Einfacher ist es daher, dem Individuum Freiheit zu lassen. Freiheit bedeutet hier: kein Fell zu programmieren und dem Individuum die Möglichkeit zu lassen, sich bei Kälte ein Fell zu bauen. Das Individuum muss also ein Organ bekommen, das ihm diese Möglichkeit eröffnet. Dieses Organ ist das Gehirn und die Hand. Das Gehirn mit seiner Kombinationsfähigkeit gestattet es dem Individuum, sich Waffen zu bauen, Tiere zu erlegen und ihnen das Fell abzuziehen, um es selbst bei Bedarf zu benutzen.
Der Mensch ist ein Individuum mit möglichst wenig vorprogrammierten Fähigkeiten, dafür hat er ein besonders gut strukturiertes Gehirn und Hände als Werkzeug, als Effektoren, wie ich sage. Das Gehirn und seine Hände befähigen ihn, sich körperexterne Ersatz-effektoren zu bauen, die seine natürlichen Mängel ausgleichen.
Diese Ersatzeffektoren sind Messer statt Krallen, Speer statt Hörner, Flugzeug statt Flügel.
Diese körperexternen Effektoren haben den Vorteil, nicht fest mit dem Körper verbunden zu sein und nur dann benutzt werden zu können, wenn sie benötigt werden. Das spart Energie. Anstatt ständig mit einem schweren Schuppenpanzer herumzulaufen wie bestimmte Dinosaurier, wofür man fast den ganzen Tag essen müsste, um den Energienachschub zu sichern, baut sich der Ritter eine Rüstung, die er im Frieden ablegen kann.
Es macht daher einen tieferen Sinn, den Menschen begrifflich nicht mit seinem lebenden Körper aufhören zu lassen, sondern ihn als System zu denken, zu dem auch seine Ideen, sein Eigentum und insbesondere sein Geld gehören. Letzteres macht ihn noch flexibler und gestattet ihm die Benutzung seiner Mitmenschen als Effektoren.
Dazu habe ich ja bereits in meinem Buch "Das System Mensch" genug gesagt. Andere mögen das ausbauen.
Das Wissen der Gene setzt sich also im Denken und Forschen des Menschen fort und befähigt ihn, über sein körperliches genetisch programmiertes Wachstum hinaus zu wachsen. Das Wachstum des Menschen setzt sich im Wachstum seines Eigentums und im Wachstum seiner Ideen fort.
Dieses Wachstum hat eine geradezu unheimliche Dynamik. Sie resultiert aus der Überlegenheit extrazellulär gespeicherter geistiger Daten gegenüber den genetisch gespeicherten. Ideen, geistige Daten, können im Gegensatz zu genetisch gespeicherten Ideen in der Zeit horizontal ausgetauscht werden. Diese Überlegenheit zeigt sich im rapiden Wachstum der Technik. Die Technik mit den aktuellen computergesteuerten Geräten und dem weiter beschleunigten Datenaustausch über Telefon- und Computernetze hat ein schwindelerregendes Tempo, das die Fähigkeiten des Menschen, die neuen Errungenschaften philosophisch zu verarbeiten, überschreitet.
Rudi Zimmerman Gesellschaftsphilosoph |