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Der tiefere Sinn der Sexualität
Inhalt: Ableitung des Sinns der Sexualität, der darin besteht, im Universum Information innerhalb Lebender Systeme anzureichern.
Der Mensch hat die Angewohnheit, von sich auf andere zu schließen. So meint er zu wissen, dass die Sexualität - auf der Ebene der Individuen - der Fortpflanzung des Individuums dient, und auf höherer Ebene der Erhaltung der Art.
Richtig ist daran nur, dass man mindestens 2 Ordnungshöhen lebender Systeme unterscheiden sollte, nämlich die Ordnungshöhe Individuum, in der viele Zellen zu einem Lebenden System zusammengefasst sind, sowie die Ordnungshöhe Art, einem Lebenden System höherer Ordnung, in dem viele Individuen zu einem Lebenden System zusammengefasst sind, in dem das Individuum ein Element ist, wie die Zelle im Individuum. Die Zelle wäre in dieser Hierarchie Lebender Systeme die nullte Stufe.
In Bezug auf das Lebende System Art stimme ich der gängigen Auffassung zu, dass Sexualität der Erhaltung der Art dient. Ich widerspreche jedoch der Idee, dass Sexualität der Fortpflanzung des Individuums dient. Das Individuum pflanzt sich lediglich auf der Ordnungshöhe der Einzeller (auf der nullten Stufe) fort, die sich durch Teilung vermehren. Aber auf dieser Ebene kann man noch gar nicht vom "Individuum" im menschlichen Sinn sprechen, da ja im Prinzip alle Individuen, die aus dem ersten Einzeller durch immer weitere Teilungen hervorgegangen sind, genetisch identisch sind, also keine genetischen Unterschiede aufweisen. Alle diese Einzeller sind sozusagen Klone des ersten Einzellers. Aber auf dieser Ebene trifft der Begriff der "Vermehrung" zu. Hier dient also die Teilung der Vermehrung. Zu einer Bildung neuer Einzeller, die sich genetisch von ihren Vorgängern unterscheiden, kann es lediglich durch Fehler bei der Teilung des Erbguts kommen. Diese Fehler werden von Biologen als Mutationen bezeichnet. Sexualität gibt es beim Einzeller noch nicht, erst mit der zweigeschlechtlichen Vermehrungsweise beginnt Sexualität.
Auf der Ordnungshöhe von Individuen, die also dem Wort nach unteilbar sind und dem Verständnis nach einzigartig, kann es schon allein deshalb keine Vermehrung geben, da bei zweigeschlechtlicher Vermehrung alle Nachkommen wiederum einzigartig sind, also keine Vermehrung der Eltern darstellen. Die Genetikindustrie ist allerdings dabei, das Klonen von Menschen möglich zu machen. Nur in diesem Fall, wenn sich nämlich die Menschen in Zukunft durch Klonung vermehren sollten, wäre das eine Fortpflanzung in eigentlichen Sinn, nämlich im Sinn der Vermehrung des Gleichen, der Fortsetzung des Lebenden Systems in der materiellen Zusammensetzung seines Vorgängers.
"Fortpflanzung" im Pflanzen- und Tierreich
Bei Vielzellern, also im Pflanzen und Tierreich, kann man, falls man diesen Vorgang unvoreingenommen betrachtet - wozu bisherige Wissenschaft offensichtlich unfähig ist - ohne weiteres erkennen, dass es dort nicht um die Vermehrung geht. Wenn ein Individuum nachkommen erzeugt, geht es dabei einerseits um die Arterhaltung, das ist unstrittig. Für die Arterhaltung genügt es jedoch, dass jedes Individuum einen Nachkommen produziert, dann nämlich bleibt die Art erhalten, die Population der Art bleibt in diesem Fall zahlenmäßig die gleiche. Bei zweigeschlechtlicher Vermehrungsweise genügt, dass ein Elternpaar im Lauf seines Lebens zwei Nachkommen erzeugt. Damit wäre die Arterhaltung gesichert.
Wie wir jedoch wissen, produzieren Eltern bedeutend mehr Nachkommen, als zur Erhaltung der Art erforderlich wären. Dieser Erzeugung von Überschuss an Nachkommen hat Darwin einen plausiblen Grund entnommen. Er dient nämlich nach Darwin der Evolution, also der Weiterentwicklung von Tierarten und der Bildung neuer Tierarten. Dieser Vorgang der Neubildung von Tierarten ist der wissenschaftlich anerkannte Sinn der Sexualität. Zusammen mit der Selektion, also der Auslese der Besten, der Angepasstesten, der Fittesten, der Durchsetzungsfähigsten – oder wie man es auch immer beschönigend bezeichnet – führe der Überschuss an Nachkommen zur Evolution. Man kann und sollte diesen Vorgang genauer so beschreiben, dass bei der Selektion die Unfähigen entweder aufgefressen werden oder verhungern. Im Tierreich wird dabei beispielsweise die Eigenschaft der Schnelligkeit selektiert: ist der Fleischfresser schneller, frisst er das Beutetier auf und überlebt, ist das Beutetier schneller, verhungert der Fleischfresser.
Betrachten wir einmal ein Froschpärchen, das in seinem Leben beispielsweise 10.000 befruchtete Eier produziert, aus denen zigtausend Kaulquappen hervorgehen, so reicht auch hier zur Arterhaltung völlig aus, dass insgesamt 2 vermehrungsfähige Frösche übrig bleiben. Der Rest der 10.000 Eier (also 9.998 Stück) bzw. Kaulquappen dienen Fischen und anderen Tieren als Futter.
Es wäre daher der Realität angemessener, den Sinn der Sexualität in der Produktion von Fischfutter, oder allgemein, in der Produktion von Futter für andere Lebende Systeme zu betrachten. Hauptsächlich und ganz überwiegend dient die Sexualität also der Erhaltung anderer Arten. Die Lust, die die Natur den Tieren gibt, die Sexualität betreiben und damit Futter für andere Arten produzieren, gibt sie sozusagen als Belohnung dafür, dass diese Lebenden Systeme der Ordnungshöhe Individuum, denn nur diese empfinden die Lust (den Orgasmus), Futter für andere Lebende Systeme herstellen. Der Orgasmus ist also die Belohnung dafür, dass ein Individuum andere Individuen, die in der Regel einer anderen Art angehören, ernährt. Lustgefühl ist also Belohnung für altruistisches Verhalten.
Rückschluss auf das System Mensch
Die Menschen produzieren – global betrachtet – aufgrund dieses natürlichen Belohnungssystems einen erheblichen Überschuss an Individuen, der über das der Arterhaltung dienende Maß weit hinausgeht. Allerdings hat der Mensch keine Fressfeinde mehr, so dass dieses Verhalten beim Menschen nicht mehr als altruistisch bezeichnet werden kann. Im Gegenteil benötigen mehr Menschen selbstverständlich mehr Nahrung und fressen bedeutend mehr andere Lebende Systeme (Pflanzen und Tiere). Beim System Mensch ist dieses im Pflanzen- und Tierreich als altruistisch zu bezeichnende Verhalten, das im Pflanzenreich noch weitaus augenfälliger ist als im Tierreich, umgeschlagen in egoistisches Verhalten, das nur und ausschließlich dem Individuum und der Art Mensch nutzt. Der Mensch ist das einzige Lebende System auf der Erde, der Sexualität ausübt und Orgasmen in Empfang nimmt, ohne dafür Futter für andere Lebende Systeme zu produzieren (erst nach seinem Tod dient er sogenannten Destruenten als Futter). Der Mensch hat sogar die "Antibabypille" erfunden, um sexuelle Betätigung von der Fortpflanzung und der Vergrößerung der Individuenmenge abzukoppeln – allerdings vermehrt sich die Menschheit dennoch.
Der tiefere Sinn der Sexualität
Dass – mit Ausnahme des Menschen – Sexualität den Sinn hat, anderen Arten Nährstoffe und Energie zu liefern, damit diese überleben können, hat einen weiteren tieferen Sinn, der sich erschließt, wenn man über das System Erde hinausdenkt und die Folgen der Sexualität für das Universum betrachtet.
Im Universum gilt – physikalisch betrachtet – der zweite Hauptsatz der Thermodynamik, nämlich der Satz der Entropie. Dieser besagt, dass Wärme nur in eine Richtung "fließen" kann, nämlich vom Wärmeren zum Kälteren, und dass das Universum irgendwann eine mittlere Temperatur erreicht und dann "stirbt". Wärme ist selbstverständlich keine Eigenschaft irgendeines Teilchens, sondern ein Maß für seine Bewegung. Es ist also diese Bewegung, die irgendwann aufhört. In diesem Zustand ist das Universum dann informationslos, wenn man als Information das Maß von Unterschieden betrachtet. Alles ist – wahrscheinlichkeitstheoretisch – gleichmäßig verteilt.
Lebende Systeme arbeiten dem jedoch entgegen. Sie werden im Lauf der Evolution immer komplexer, ihre Zusammensetzung wird immer unwahrscheinlicher, je weiter das System in der Evolution vorangeschritten ist. Mit anderen Worten: Lebende Systeme reichern Information immer mehr an. Diese Informationsanreicherung kann man als antientropisch, oder als extropisch bezeichnen. Die Entwicklung des Universums geht also insgesamt den Weg der Entropie, aber innerhalb der Gesamtheit der Lebenden Systeme steigt im Gegensatz dazu die Extropie. Für diesen Vorgang der Extropieanreicherung (oder Entropieverminderung) ist die Sexualität verantwortlich. Die Sexualität sorgt dafür, dass Lebende Systeme geringerer Extropie ihre komplizierten Moleküle - Aminosäuren und andere Moleküle, die von ihnen hergestellt werden -, anderen Lebenden Systemen zur Verfügung stellen, damit diese Herstellungenergie sparen. Höher entwickelte Lebende Systeme müssen also nicht bei Null anfangen und bei der Produktion von Aminosäuren, Fettsäuren oder Zucker beginnen, sondern können diese Substanzen, die von anderen lebenden Systemen – der Zucker wird von Pflanzen produziert – benutzen, um – darauf aufbauend – Moleküle herzustellen, die noch komplexer sind und damit mehr Information speichern, also extropischer sind.
Die Lebenden Systeme arbeiten also durch die Sexualität dabei zusammen, Information im Universum innerhalb offener Subsysteme des Universums, nämlich den Lebenden Systemen, anzureichern. Oder anders formuliert: Sexualität dient der Anreicherung von Information innerhalb offener Subsysteme des Universums, innerhalb der Lebenden Systeme. Und das System Mensch ist das Lebende System, das am meisten Information angereichert hat. Dies verdankt es der Vermehrungstätigkeit aller anderen Lebenden Systeme auf der Erde, die nämlich nicht in erster Linie sich selbst vermehren oder ihrer Art vergrößern, sondern Information vermehren und in Form von Futter anderen zur Verfügung stellen.
Sexualität dient also der Informationsanreicherung.
Rudi Zimmerman Webphilosoph |